Dietmar Zöller

Auf Campingplätzen erlebt

Auf Campingplätzen erlebt
 
Alle Möwen fliegen weg
 
„Papa, warum ist das Wasser weg?“ „Paul, das geht jeden Tag weg und kommt immer wieder zurück.“. Die pausenlose Fragerei seines Sohnes forderte seine volle Aufmerksamkeit. Er war froh, wenn Paul ein paar Minuten still blieb. Mit den älteren Herrschaften aus dem roten Campingbus hatte Paul sich etwas angefreundet, und die schienen nichts dabei zu finden, wenn Paul zu ihnen kam. Ein geschäftlicher Anruf, der sich in die Länge zog. Wo war Paul? Nervös blickte der Vater mit den grauen Schläfen, der auch hätte der Großvater sein können, in die Runde. Als der Geschäftspartner aufgelegt hatte, sprang er schnell zum Sandstrand. Er sah den Blondschopf in einer Sandgrube, zusammen mit einem anderen Kind. Erleichterung. „Papa, du sollst meine Schaufel und die Schubkarre holen“, rief Paul, als er seinen Vater erblickte. „Mal langsam, Paul, du hast noch gar nichts gegessen, komm erst mal mit in den Wohnwagen.“ Paul schmollte, folgte aber willig seinem Vater. Im Wohnwagen ein unbeschreibliches Chaos. Pauls Bett musste abgezogen werden. Er hatte in der Nacht Pech gehabt, war nicht rechtzeitig zur Toilette gekommen. Wo war nur das Müsli? Er war sicher, Müsli gekauft zu haben. „Papa, kommt gleich das Wasser wieder? Wo gehen dann die Möwen hin? Fliegen die alle weg?“ Ja, Paul, alle Möwen fliegen weg.“
Er blickte stolz auf seinen Jungen. Nach dem Frühstück setzte er Paul auf eine Sackkarre und fuhr ihn über den Sandstrand. Paul jauchzte und sein Vater mit den grauen Schläfen begann zu keuchen. Dann bauten sie zusammen eine Sandburg. Vater und Sohn arbeiteten mit Hingabe und Fleiß. „Papa, guck mal, die Möwe, die ist ganz groß. Wo wohnt die Möwe?“ „Paul, die Möwen haben kein festes Zuhause. Sie leben am Meer und im Watt.“ Stimmte das überhaupt, was er dem Kleinen sagte? Was wusste er schon über Möwen? Paul verfolgte eine Möwe, die über den Strand spazierte. Er begann zu laufen. Schon war die Möwe in der Luft und Paul hatte das Nachsehen. „Alle Möwen fliegen weg“, jammerte er.
Abends. Paul war endlich eingeschlafen. Endlich eine Zigarette und ein Bier. Er saß allein vor dem Wohnwagen, blickte ab und zu von der Zeitung hoch und verfolgte besorgt die dunklen Wolken. Die Möwen kreischten mal wieder über seinem Wohnwagen.
Es ist anstrengender, als ich es mir vorgestellt habe. So ein kleiner Knirps hält einen ganz schön auf Trapp. Ich bin so erschöpft, als hätte ich einen ganzen Tag lang Geschäftstermine wahrgenommen. Er schreckte hoch. War er doch tatsächlich kurz eingeschlafen. Miriam hatte vor ihm gestanden und Paul zurück gefordert. Mit ihr war nicht zu spaßen, wenn es um das gemeinsame Kind ging. Paul war das Ergebnis einer kurzen Affäre. Viel Geld zahlte er seiner Mutter. Ein wunderbares Kind. Wie hübsch und intelligent er war. Und Paul mochte ihn, das machte ihn glücklich. Wie überwältigt war er gewesen, als der Knirps ihn fest umarmt und geküsst hatte. So etwas in seinem Alter zu erleben, war ein Geschenk.
Morgens. „Papa, warum bringst du mich wieder zu Mama? Ich mag so gern mit dir spielen. Du kannst so gut toben.“ „Ach, Paul, wenn ich nicht arbeiten müsste. Die Geschäfte warten nicht.“
Am nächsten Morgen regnete es ununterbrochen. Vor dem Wohnwagen hatte sich eine dicke Pfütze gebildet. Den Vater mit den grauen Schläfen packte das Grauen. Was sollte er mit dem Jungen anfangen, wenn es nur regnete? Kurz entschlossen packte er alles zusammen. „Paul, wir fahren weg. Wenn es regnet, fahren alle weg.“ „Auch die Möwen fliegen weg?“ fragte Paul traurig. „Auch die Möwen fliegen weg“, murmelte gedankenverloren der Vater mit den grauen Schläfen.
Paul ist weg, stellten die Leute von nebenan enttäuscht fest, als sie von ihrem Trip zur Insel zurückkamen.
 
 
Es gibt ein Unwetter
 
Verschlossen, unnahbar. Den ganzen Tag hockt sie in dem tiefen Sandloch, das sie gebuddelt hat, liest, sendet und empfängt SMS und hört Musik. Wie schnippisch sie auf mich reagiert, wenn ich sie freundlich auffordere, mir zur Hand zu gehen? Er räkelte sich im Liegestuhl, den er vor den Wohnwagen gestellt hatte, Nervös fingerte er eine neue Zigarette aus dem Päckchen. Die beiden Kleinen waren mit dem Fahrrad auf dem riesigen Campingplatz unterwegs. Sie sind mir so fremd geworden. Uli reagiert aggressiv, wenn ich ihn nur angucke und Marie weicht zurück, wenn ich in ihre Nähe komme. Wie konnte ich mich nur auf dieses Unternehmen einlassen? „Gibt es ein Unwetter?“ fragte die alte Frau von nebenan freundlich. „Das geht bald vorbei, die Wolken muss man nicht so ernst nehmen.“ Zum ersten Mal sah er in das Gesicht der Nachbarin, die mit ihrem Ehemann und einem offensichtlich behinderten erwachsenen Sohn vor ihrem Campingbus saßen. Dann zog er wieder an seiner Zigarette und blickte nervös in die Richtung, wo die 13-jährige Jule verschwunden war. Jule war gerade 2 Jahr alt, als sie zum ersten Mal zusammen zu einem Campingurlaub an die Nordsee aufgebrochen waren. Jule, meine kleine Prinzessin. Wie niedlich stolzierte sie mit einem Eimerchen durch den Sand. Ja, damals war die Welt noch in Ordnung. Carmen und er teilten sich die Arbeit, und es gab immer noch genügend Zeit, sich im Wasser oder im Watt zu vergnügen.
Nun musste er alles allein machen. Keiner wollte etwas tun. Auch Uli schmollte, wenn er etwas von ihm verlangte. Was hatte Carmen nur mit seinen Kindern angestellt? Sie respektierten ihn nicht. Was hatte Jule gestern ihrer Mutter, die jeden Tag jedes Kind einmal anrief, erzählt, als sie nicht bemerkt hatte, dass er sich in ihrer Nähe aufhielt? „Papa macht sich viel Arbeit, aber keiner nimmt ihn ernst.“ Wo blieb seine Autorität? Mit seinen Schülern kam er doch ganz gut zurecht. Aber seine eigenen Kinder tanzten ihm auf der Nase herum. Carmen hatte ihn gewarnt, als er mitgeteilt hatte, er wolle während der schulfreien Tage mit allen Kindern an die Nordsee fahren. Carmen hatte angeboten, dass sie und ihr Freund den Wohnwagen nach B. fahren würden. Das fand er ganz praktisch. Er musste dann nicht den Umweg nach S. fahren, wo der Wohnwagen stand. Aber nun das. Wie packte Carmen das nur mit den Kindern, seit er ausgezogen war? Er gähnte und zündete wieder eine Zigarette an. Dann verschwand er im Wohnwagen und kam mit einer Dose Bier zurück. Ein kurzer Blick. Die Nachbarn waren fortgegangen. Er erspähte sie im Watt. Früher waren sie auch im Watt gewandert, die Kinder hatten sich mit Schlick beworfen. Was war das für ein Gaudi. Wenn Carmen im Schlick zu tief einsank, musste er sie herausziehen. Sie fassten sich an die Hände und spürten den Wind auf der Haut.
Uli kam angeradelt und bat um Geld für ein Eis. „Ihr könnt später Eis für uns alle besorgen, wenn wir zu Abend gegessen haben.“ Uli schmollte und war nicht bereit zu warten. Mit seinem Fahrrad fuhr er verärgert eine kleine Böschung runter und blieb im Sand stecken. „Scheiße, Dreckskerl“, fluchte der Zehnjährige.
Abendessen im Wohnwagen. „Kinder, es geht nicht. Keiner will etwas tun. Ich kann euch nicht bedienen wie kleine Kinder. Entweder helft ihr, oder wir reisen vorzeitig ab.“ Jule verzog ihr Gesicht zu einem hochmütigen Grinsen. Uli und Marie erklärten sich bereit das Geschirr zu spülen. Immerhin. „Du hättest Carmen nicht verlassen sollen“, bemerkte Jule anzüglich, „dann müsstest du nicht allein für uns sorgen.“ Er ärgerte sich, war aber nicht bereit, auf Jules freche Bemerkung einzugehen. Die starrte schon wieder auf ihr Handy. Wie viele SMS sie bekam. Sollte da schon ein Junge im Spiel sein?
Marie kam schreiend angelaufen. „Uli hat mich geboxt.“ Dann kam Uli mit dem Geschirr aus der Campingplatzküche zurück. „Nie wieder spül ich mit Marie Geschirr, die steht nur faul dabei und packt nichts an.“ Die Kinder begannen sich anzuschreien, so dass die Nachbarn auf dem voll besetzten Campingplatz aufmerksam wurden und zu tuscheln begannen. Er schloss Fenster und Türen des Wohnwagens.
Am späten Abend, als die Kinder zu schlafen schienen, saß er noch eine Weile erschöpft und nachdenklich vor dem Wohnwagen. Die Sonne war längst untergegangen und dunkle Wolken zogen auf. Es gibt ein Unwetter, dachte er und zündete wieder eine Zigarette an,
Am nächsten Tag. Das Ehepaar mit dem behinderten Sohn kam von einer langen Wanderung zurück. Guck da, der Wohnwagen nebenan war weg. Der arme Mann, er hat sich so bemüht, aber alles, was er machte und anbot, war verkehrt. „In dessen Haut hätte ich nicht stecken mögen“, bemerkte der alte Mann, der soeben seinen 70. Geburtstag im Kreise seiner Kinder und Enkel gefeiert hatte.
 
 
Es kann jederzeit knallen
 
„Guten Tag“, sagte der türkische Soldat, „woher kommen sie?“ Die Deutschen reagierten überrascht, als sie auf Deutsch angesprochen wurden. Sie standen mit ihrem Campingbus unterhalb der imposanten Burg Ishak-Pasa Serail nahe der iranischen Grenze Ein heißer Wind nahm ihnen die Luft zum Atmen und das gleißende Sonnenlicht ließ die Augen schmerzen. Sie fühlten sich auch nicht besonders sicher auf diesem Platz, auf dem sie die einzigen Campinggäste zu sein schienen. Der Soldat redete in flüssigem Deutsch auf sie ein, und es dauerte gar nicht lange, da kannten sie die Lebens- und Leidensgeschichte des Mannes, der aus Westanatolien stammte, 41 Jahre alt war, Elektrotechnik studiert hatte, auch etwas Deutsch, und der sich gar nicht damit abfinden konnte, dass man ihn noch eingezogen hatte und dass er ausgerechnet in Ostanatolien, in dieser Wildnis, wie er sich ausdrückte, seinen Wehrdienst ableisten musste. Die anderen Soldaten, die mit ihm zum Campingplatz abkommandiert worden waren, um dort Wasser zu holen, winkten und riefen, so dass das Gespräch unterbrochen wurde. Am nächsten Tag kam er wieder. Man fragte ihn, wie er die politische Lage einschätze, ob man sich sicher fühlen könne, denn der ADAC habe vor Reisen in das Gebiet der Kurden gewarnt. „Es kann jederzeit knallen“, sagte der Soldat, der sich inzwischen wie ein Vertrauter der Familie mit dem behinderten Sohn aufführte, „die Kurden sind Banditen.“ Die Urlauber aus Deutschland reagierten er schreckt. Da kamen zwei weitere Rekruten, junge Männer, dazu, bestaunten neugierig das Campinggefährt und drängten ihren Kameraden zu kommen. Da fragte der eine Soldat, der ein bisschen dümmlich dreinschaute, etwas auf Türkisch. Der Freund der Deutschen begann hämisch zu lachen und übersetzte den überraschten Deutschen, was jener gesagt hatte. Er hatte wissen wollen, wieso er sich mit den Deutschen verständigen könne, denn sie sprachen ja kein Türkisch. Er wollte sich kaputt lachen über die Dummheit der Rekruten, mit denen zusammen er Dienst tun musste. „Übrigens hat mein Kommandant mir verboten, mit euch zu reden“, bemerkte er voller Empörung. Am nächsten Tag war er nicht bei der Gruppe, die Wasser holte. Die Deutschen verließen den Platz und fühlten sich nicht mehr so sicher wie vor wenigen Tagen. Auch nervten sie die vielen Straßenkontrollen durch das Militär, auch wenn die Soldaten sie ausnahmslos höflich behandelten.
 
 
Eine schwierige Frage
 
„Wir brauchen einen Platz für die Nacht“, bemerkte sie besorgt, nachdem sie einen
ganzen Tag lang in Mesopotamien mit dem Campingbus unterwegs gewesen waren.
Sie hatten kaum anhalten können, weil es unsagbar heiß gewesen war und sie
keinen schattigen Platz gefunden hatten. Sie waren an der syrischen Grenze
gewesen und hatten erfahren, dass es nicht möglich war ein Tagesvisum für einen Abstecher über die Grenze zu bekommen. „Da, ein Hotel“, rief sie erregt, „vielleicht erlauben die uns auf ihrem Gelände zu stehen.“ Campingplätze gab es weit und breit nicht. Sie hatten Glück, gegen eine geringe Gebühr durften sie im Innenhof des Hotels übernachten. Inzwischen war es dunkel geworden. Es gab außer ihnen nur wenige Gäste, die ihr Essen im Hof einnahmen. Es dauerte nicht lange, da gesellte sich ein Türke zu ihnen, der gut Deutsch sprach. Er wohnte gar nicht im Hotel. Man habe ihm mitgeteilt, dass Deutsche gekommen seien, und da war er sofort losgefahren, weil er so gern Deutsch sprach, aber selten die Gelegenheit dazu hatte. Der Mann erwies sich als hoch gebildet, kannte die deutsche Literatur und schien eine Landkarte von Deutschland im Kopf zu haben, obwohl er nie dort gewesen war. Es wurde später und später. Außer ihnen saß nun niemand mehr draußen, und der Kellner des Hotels hatte sich auch zurückgezogen. „Nun sagen sie mal“, sagte der Mann unsicher, „ist es richtig, dass ich tun muss, was meine Familie will, nur weil ich nicht verheiratet bin?“ Diese Frage hatte er wohl den ganzen Abend auf dem Herzen gehabt. „Das ist eine schwierige Frage, die wir kaum beantworten können, weil uns die Hintergründe nicht bekannt sind“, stotterte der Deutsche, der nicht mehr der jüngste war und dessen Haar ergraut war. Das Gespräch wurde immer dichter. Der Türke war dem Weinen nahe. Er meinte, seine Situation kaum noch aushalten zu können. Betretenes Schweigen. Nachdenken. „Ich danke euch für euer Verständnis und eure Geduld“, sagte der Türke, stand auf und verabschiedete sich schnell, ohne noch etwas zu sagen.
 
„Destinazione de deo“
 
Sie waren in Italien unterwegs, wollten die überfüllten und lauten Campingplätze am Meer umfahren und hatten große Lust, ins Landesinnere vorzudringen. Sie wollten dahin, wohin die meisten Urlauber nicht wollten. Nachdem ihnen jemand von einem kleinen Campingplatz an einem Kratersee erzählt hatte, suchten sie diesen Platz, der in keinem Campingführer verzeichnet war. Sie fanden ihn gerade noch rechtzeitig, um vor Einbrechen der Dunkelheit anzukommen. Der Platzwart gestikulierte lebhaft und redete Unverständliches, als sie auf ihn zukamen. Es war wohl etwas Besonderes, dass Deutsche in diese abgelegene Gegend kamen. Sie richtete sich in einer Ecke des Platzes ein und bereiteten das Abendessen auf einem winzigen Campingkocher. Der Platzwart kam mehrere Male vorbei, trug eine Alkoholfahne vor sich her und lamentierte.
„Ein idyllischer Platz“, sagte sie; aber als sie von der Toilette zurückkam, war von Idylle keine Rede mehr. Spät abends, sie saßen vor ihrem Campingbus und tranken Wein, da kam der Platzwart wieder und machte keine Anstalten, sie allein zu lassen. Er wollte sich unterhalten und redete mit Händen und Füßen. Die Deutschen erinnerten sich an ihren Lateinunterricht und versuchten, aus den wenigen Vokabeln, die ihnen einfielen, Wörter zu bilden, die italienisch klangen. Der Mann schielte immer wieder zu dem Sohn, dessen Behinderung ihm aufgefallen war. Und schließlich brachte er es fertig, den Eltern zu vermitteln, so ein Problemsohn sei ja wohl eine destinazione von Gott. Der junge Mann überlegte: engl. destination, lat. destinatio, deutsch Bestimmung. Er verstand genau, was gesagt wurde, aber er nahm es dem Alten nicht übel. Vielleicht hatte der ja Recht. Am nächsten Morgen reisten sie ab. „Ich bin eine destinazione de deo“, bemerkte der Sohn und lachte dabei verschmitzt über sich selbst, über seine Eltern und über jenen alten Mann, der unter Alkoholeinfluss die Wahrheit kundgetan hatte.
 
 
Wo waren sie gelandet?
 
Sie suchten in Bulgarien einen Campingplatz für eine Nacht. Dann wollten sie weiterreisen in die Türkei. Staunend nahmen sie zur Kenntnis, dass viele junge Mädchen in aufreizender Pose am Straßenrand standen und offensichtlich auf Freier warteten. Der Campingplatz war wenig frequentiert. Man meldete sich in einer geräumigen Hütte an, die einen Schankraum hatte, von wo aus auch Gäste im Freien bewirtet wurden. Sie suchten sich einen Stellplatz für den Campingbus in der äußersten Ecke der Anlage. So machten sie es immer. Wenn es genügend Platz gab, verkrochen sie sich in die äußersten Ecken. Das hatte einen Grund. Der erwachsene Sohn, der seine Eltern begleitete, war autistisch und sehr empfindlich gegenüber Lärmbelästigungen. Abends. Der Duft von Gebratenem stach ihnen in die Nasen und weckte Begehrlichkeiten. Also verließen sie ihre gemütliche Ecke, in der sie sowieso von der lauten Musik belästigt wurden, und mischten sich unter das Volk, das sich am Eingang vor der Bude aufhielt. Da waren keinesfalls Campinggäste, sondern offensichtlichEinheimische, die zum Bier rüber kamen. Etliche aufgetakelte junge Damen mit Stöckelschuhen und auffallendem Make up saßen mit meist älteren Herren an den Tischen. „Sieh mal, haben wir die Frau nicht an der Straße stehen sehen?“ fragte sie und schaute unauffällig in die Runde. Er erkannte eine andere Dame vom Straßenstrich wieder. „Wo sind wir bloß gelandet?“ bemerkte sie amüsiert. Sie guckten sich an und tuschelten. Das Essen war nicht besonders gut und auch nicht billig. Die Musik verfolgte sie bis zu ihrem Campingbus. Am nächsten Morgen, sie hatten auf das Duschen verzichten müssen, weil das Wasser nur tröpfelte, trauten sie ihren Augen kaum. Aus den kleinen Campinghütten traten nacheinander jene Damen, die sich an der Straße Freiern angeboten hatten. „Wo sind wir nur gelandet?“ bemerkte sie lachend und Mann und Sohn grinsten vielsagend.
 
 
Ein Beitrag zur Völkerverständigung
 
Als sie vor dem Campingplatz standen, konnten sie nicht ahnen, dass hier ausschließlich türkische Familien Urlaub machten. Die Verständigung war schwierig, denn niemand konnte Englisch. Trotzdem wurden sie freundlich aufgenommen und man forderte sie auf, sich einen Platz zu suchen. Als sie ihr Dach vom Campingbus aufgestellt hatten, spürten sie, wie sie von vielen Seiten beobachtet wurden. Sie saßen schon eine Weile vor ihrem Auto, da gingen zwei Frauen nahe an ihnen vorbei, grüßten und gingen weiter. Die Frauen kamen ein zweites Mal, und es sah so aus, als hätten sie ein Anliegen. Es wurde deutlich, dass sie wissen wollten, wo und wie sie zu Dritt in dem Wagen schliefen. Der deutsche Mann demonstrierte freundlich den neugierigen Frauen, wie man das hochgestellte Dach zu einer Schlafstätte umfunktionieren konnte. Immer mehr Leute interessierten sich für sie und ihr Auto. Später näherte sich eine andere Gruppe von Frauen. Sie kicherten und wirkten verschämt, als sie sich beobachtet fühlten. Da fasste sich die eine ein Herz, kam heran und redete auf Türkisch auf die deutsche Frau ein. Die verstand natürlich nichts. Die Frau zeigte fortwährend auf ein Gebäude, das am Strand stand und ihnen leider die Sicht auf das Schwarze Meer versperrte. Es ging eine Weile hin und her. Der Sohn der Deutschen, der nicht sprechen konnte und autistisches Verhalten an den Tag legte, dachte: Toll, wie man sich mit dem Körper verständigen kann. Die anderen Frauen waren nun auch näher gekommen. Da tippte die, die sich am nächsten herangetraut hatte, die deutsche Frau am Arm an, nahm eine Hockstellung ein und machte Zeichen, die wohl bedeuten sollte, so etwas solle die Frau lieber nicht tun. Alle lachten. Die Frauen gingen schwatzend und gestikulierend weiter. Irgendwann wollte die deutsche Frau die Toilette aufsuchen und ging auf jenes Gebäude am Strand zu. Prustend kam sie zurück. „Sie wollte mich warnen, die Toilette zu benutzen Ich bin sicher. Wir müssen eine andere Lösung finden.“ Schnell wurde die Campingtoilette aus dem Kofferraum geholt, und nacheinander verschwanden Mutter, Vater und Sohn in ihrem Auto und verharrten dort eine Weile bei zugezogenen Vorhängen.
Noch lange erzählten sie von dem Beitrag zur Völkerverständigung, den jene türkische Frau geliefert hatte.
 
 
Man sollte wissen, wo man übernachten kann
 
„Ich will den Ararat sehen“, wiederholte stereotyp der junge Mann, dessen autistische Behinderung offensichtlich war. Seine Eltern wirkten unsicher und fühlten sich unter Druck gesetzt. Es begann dämmrig zu werden, als sie Trabsunt am Schwarzen Meer erreichten. Den Campingplatz, der auf ihrer Karte eingezeichnet war, gab es nicht mehr. Es kämen kaum noch Touristen, sagte man ihnen. Sie gaben die Suche nach einem Campingplatz auf und steuerten einen Parkplatz direkt am Meer an.
Der Parkwächter schien nichts dabei zu finden, dass sie die Nacht auf dem Parkplatz verbringen wollten. Für ihn war die Angelegenheit erledigt, nachdem sie die doppelte Parkgebühr bezahlt hatten. Es war ein hell erleuchteter Park, an dessen Rand sie standen. Von zwei Seiten hörten sie fetzige Musik, dazu brauste das schwarze Meer, und die nahe Hauptverkehrsstraße war mit ihrem Lärm die ganze Nacht gegenwärtig.
Nicht weit von ihrer Parkbucht entfernt wurden Bücher verkauft. Der Verkäufer, vielleicht ein Student, versuchte zu ihnen Kontakt aufzunehmen, aber es gab keine gemeinsame Sprache. Es blieb bei freundlichen Blicken und Gesten des Bedauerns. Sehr spät packte der Mann seine Bücher in Bananenkisten und verschwand. Auf der Promenade lief immer noch allerhand Volk herum, und das blieb so bis weit nach Mitternacht. Nachts wurde sie wach und registrierte, dass sie allein auf dem Parkplatz zurück geblieben waren. Der Parkplatz wurde auch nicht bewacht, wie sie angenommen hatten. Sie, die oben auf dem Dach schlief, wälzte sich von einer Seite auf die andere und beobachtete durch das kleine Fenster das Gelände. Da, eine einzelne Person, die auf ihr Auto zukam, kurz stehen blieb und dann weiter ging. Ihr Herz begann zu rasen. „Wir sind allein auf weiter Flur“, sagte sie besorgt. Aber ihr Mann hörte nichts und schlief ruhig weiter. In den Morgenstunden schlief sie endlich ein. Als sie wach wurde, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Sie weckte Mann und Sohn. Schnell war das Auto umgeräumt, die Schlafsäcke verstaut, so dass sie das Frühstück bereiten konnte. Demonstrativ nahmen sie vor ihrem Auto Platz und beobachteten die Leute, die vorbei kamen. Ein Mann blieb stehen, kam näher und begrüßte sie mit Handschlag in deutscher Sprache. Er war überrascht, dass sie an diesem Ort übernachtet hatten.
Nach dem Frühstück Fahrt zum berühmten Sumelakloster, das auf Postkarten so ausieht, als wäre es an einen Felsen geklebt. Was entdeckten sie? Drei Campingplätze hintereinander. Aber nur einer, der einem Gasthaus angegliedert war, schien für eine Übernachtung geeignet zu sein. Da sie nun wussten, wo sie die nächste Nacht verbringen würden, konnten sie in aller Ruhe den Aufstieg zum Kloster vornehmen. Ja, man sollte wissen, wo man die nächste Nacht verbringt, dachte der Sohn mit autistischen Problemen.
 
 
Der alte Pole und die Pfandflaschen
 
Es ging ihm schon den ganzen Tag schlecht. Er war unruhig und seine besorgten Eltern waren froh, als sie in der Campinganlage am See einen Platz gefunden hatten. Sie waren schon zwei Wochen lang in Polen unterwegs. Auf ihrer Karte war dieser Ort als Nikolaiken ausgewiesen, der polnische Ortsname war für sie unaussprechbar. Am späten Nachmittag beobachteten sie einen Auflauf bei der Rezeption. Ein Mann wurde von zwei Personen festgehalten. Polizei fuhr vor, legte dem Mann Handschellen an und führte ihn ab. Sie hätten gern gewusst, was los war. Ein Spaziergang am See entlang brachte den Sohn wieder ins Gleichgewicht. Am nächsten Tag in aller Frühe hörte sie, die immer früh aufwachte, ein Geräusch aus ihrem Vorzelt, in dem ein kleiner Campingtisch und drei Stühle standen. Sie schliefen im Campingbus, den sie vorsorglich verschlossen hatten. Sie, die sowieso hatte aufstehen wollen, stieg vom Dachzelt herab, öffnete vorsichtig die Autotür und stand einem alten Mann gegenüber, der zwei leere Flaschen in den Händen hielt. Augenblicklich wurde ihr klar, dass der alte Mann nach leeren Flaschen suchte, um dafür Pfand zu bekommen. Sie hatte keine Angst mehr. Sie gab spontan dem Mann alle leeren Flaschen, die sich im Auto befanden. Der dankbare Blick des Polen beschämte sie. Niemals würden sie durchblicken, wie es den Menschen in diesem Land wirklich ging.
 
 
  
 
Die gute Frau aus Eisenach
Da stand sie plötzlich neben unserem Auto, lachte uns freundlich an und sagte verschämt: Ich habe ihr Telefongespräch mitgehört. Ich gebe Ihnen gern etwas zu essen ab. Wir haben viele Vorräte. Alles gut thüringische Ware..“ Die Leute kamen aus Eisenach und wollten den armen Nachbarn aus dem Westen etwas Gutes tun. Wir reagierten ein wenig betroffen und versicherten, dass wir das Nötige schon noch haben, dass uns aber die Getränke fehlen. Wir bekamen dann selbstverständlich Bier und Wasser geschenkt.
Nach einer Weile, als wir vor dem mager gedeckten Tisch saßen, erschien die Nachbarin mit drei Scheiben thüringische Sülze, sogar mit Senf dazu wurden wir versorgt. Wie reagiert man auf so viele Guttaten? Nicht nur ein Autist reagiert unbeholfen, andere Personen sind nicht wesentlich anpassungsfähiger. Warum nur ist es so schwierig, auf einem Campingplatz Beziehungen einzugehen? Man schottet sich ab, und doch guckt man sich gegenseitig auf den Tisch und hört Telefongespräche mit.
Wir armen Wessis fahren ein supermodernes Campingauto, aber zu essen gibt es wenig.
 
 
 
 
 
 
 
 
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