Dietmar Zöller

Geschichten

Die Rabenmutter und die Menschen, die kein Gesicht hatten
 
Im Gefängnis schlief sie während der ersten Nacht nicht. Wie Szenen aus einem Film glitten Erinnerungen vorbei, die nicht wirklich zu ihr gehörten. Sie empfand nichts. Sie meinte den Mann zu sehen, der der Vater ihres Kindes sein musste. Er hatte kein Gesicht. Seinen Namen kannte sie nicht.
Das Kind stand vor ihr, eine Puppe, der man hübsche Kleider anziehen konnte. „Wie süß.“sagte die Frau im Supermarkt und ging weiter. alle gingen weiter.
Die Leute , die im hellhörigen Plattenbau wohnten, starrten sie auf der Treppe an, tuschelten. Die Frau von nebenan drohte mit dem Jugend-amt. Alle hörten täglich das schrille Geschrei des Kindes.
Sie zog die Decke über den Kopf. Es half nicht. Das Kind brüllte und tobte. Sie schrie:“Sei still!“
Kurz guckte sie unter der Decke hervor. Ein kaltes Neonlicht breitete sich in der Zelle aus. Sie begann zu zittern.
Mit 22 Jahren hatte sie ihr erstes Kind ohne Hilfe zur Welt gebracht. Als sie ihre Mutter anrief, hatte die gerade Besseres vor und lallte ins Telefon: „Damit musst du allein zurecht kommen.“ Die Sozialarbei-terin, die anfangs regelmäßig vorbeikam, fand keinen Zugang zu der jungen Mutter und blieb irgendwann weg.
Mit Gelegenheitsarbeiten hatte sie sich immer über Wasser gehalten. Dann kam das Kind. Das Baby behandelte sie wie eine Puppe, die hübsch sein sollte. Wie genoss sie die bewundernden Blicke der Passanten, wenn sie das Mädchen spazieren fuhr.
Das Kind schrie, wie jede Nacht. Müde war sie, konnte kaum die Augen aufhalten. Irgendwann begann sie auf das verstockte Kind einzuprügeln ohne zu wissen, was sie tat. 
Da sah sie die Tabascoflasche auf dem Küchentisch. Das Mädchen hatte einmal das scharfe Gewürz probiert und war danach ganz ruhig und zufrieden geworden. Reflexartig griff sie nach der roten Flasche und reichte sie dem tobenden Kind. Das Schreien hörte auf, nachdem das Mädchen von der Flüssigkeit getrunken hatte.
Nun hatte sie wieder das Geschrei in den Ohren und konnte sich nicht davon befreien. Auch jetzt nicht, während sie auf ihrer Pritsche in der Zelle lag und zu schlafen versuchte.
Einmal, als das Kind wieder außer sich war und schrie und tobte, wusste die junge Frau nicht mehr ein noch aus. Ihre Verzweiflung war groß, als sie dem Mädchen eine ätzende Flüssigkeit in einer Tasse reichte. Im Krankenhaus sagte man ihr, dass das Kind hätte sterben können. Das hatte sie nicht gewollt. Die Ärzte glaubten ihrer Darstel-lung, dass das Kind in einem unbewachten Moment die Flüssigkeit getrunken hatte.
Sie schreckte auf, nachdem sie im Halbschlafe ihn gesehen hatte, wie er im Trunk das Mobiliar ihrer kleinen Wohnung, die sie seit eini-gen Monaten zusammen bewohnten, zusammenschlug.
Er hatte keine Arbeit. Wenn er betrunken war, schlug er sie und einmal hatte er sie in Gegenwart der Kleinen vergewaltigt. Das Mädchen hatte erstaunt zugeguckt und sich bald unterm Tisch verkrochen, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen.
Er hatte kein Gesicht, aber er mochte das Mädchen, und wenn er nüchtern war, spielte er manchmal mit ihr.
Mit 5 Jahren brauchte das Kind noch Windeln. Sie öffnete die Windel, ekelte sich und begann zu schimpfen. Sie kochte vor Wut und schlug das Kind, das nicht reagierte.
Damals, als das Mädchen mal wieder ohne Grund zu schreien schien, hatte sie ihm wieder die scharfe Flüssigkeit zu trinken gege-ben. Das Kind wurde bewusstlos und die junge Frau geriet in Panik. Das hatte sie nicht gewollt. Angstschweiß stand ihr nun auf der Stirn, als sie das bewusstlose Kind sah.
Die Frau vom Jugendamt kam unangemeldet. Sie fand ein Kind vor, dass offensichtlich vor Schmerzen brüllte. Auf dem Küchentisch stand die Flasche mit der scharfen Flüssigkeit. Sie schöpfte Verdacht und sorgte dafür, dass. das Kind ins Krankenhaus gebracht wurde. Am nächsten Tag kam die Polizei und nahm die Frau, von der man an-nahm, dass sie ihr Kind umbringen wollte, fest. Die neugierigen Nachbarn im hässlichen Plattenbau tuschelten und wussten viel über die Rabenmutter zu erzählen.
Sie weinte: „Mein armes Kind. Warum? Warum?“
Sie dachte sie an ihre Mutter, die sie oft ohne Anlass geschlagen hatte, als sie klein war. Ihre Mutter hatte kein Gesicht.
Die Fremde fragte nicht viel. Sie setzte sich zu ihr, hatte es offen sichtlich nicht eilig. Sie schaute die verhärmte Frau offen an. „Ich wollte nur, dass sie aufhört zu schreien.“ Sie begann zu weinen. Als die Seelsorgerin nach mehr als einer Stunde die Zelle verließ, dachte sie immerfort an die Autistengruppe im Annastift, an die Kinder, die oft ohne erkennbaren Anlass brüllten, als wäre Schlimmes passiert, die aber nicht weinten, wenn sie sich verletzt hatten.
 
 
Der Nikolaus
 
Ein Nikolaus aus Schokolade erreichte ihn zu seinem 35. Geburtstag. Es war ein besonders hübsches Exemplar und wurde von einer Cellophantüte geschützt. Da stand der Nikolaus nun auf dem Schrank und freute sich seines Lebens. Eigentlich hätte er eine unheimliche Angst haben müssen, denn der neue Besitzer war gierig nach Schokolade und konnte in der Regel an einer Schokolade nicht vorbei kommen, ohne sie blitzschnell in dem Mund verschwinden zu lassen.
Nun stand Ostern vor der Tür, aber den Nikolaus gab es immer noch und jedermann, der den Besitzer kannte, fragte sich verwundert, was das bedeuten solle.
Aber dieses Rätsel war leicht zu lösen. Wie könnte man einem Wesen ans Leben gehen, wenn es von einem Schutz umgeben wird? Die Cellophantüte schützt das Wesen vor der Menschengier, so wie auch Menschen geschützt sind durch eine unsichtbare Hülle. So etwas zerstört man nicht. Und so wurde der Nikolaus ein Sinnbild für das geschützte Leben.
Der Nikolaus hat die Chance, noch lange am Leben u bleiben. Sein Besitzer wird sich nicht an ihm vergreifen.
 

 
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