Dietmar Zöller

Ein Brief von Lena Burkhart, der meine Gefühlswelt durcheinanderwirbelte...


Ein Brief von Lena Burkhart, der meine Gefühlswelt durcheinanderwirbelte und mein Erinnerungs- und Denkvermögen aktivierte

Brief vom 11. November 2022

Sehr geehrter Herr Zöller,

ich bin Lena Burkhart, Studierende der LMU München Sonderpädagogik mit Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung.
Mein Dozent André Gomes war so freundlich, mir Ihre Email-Adresse weiterzuleiten.

Für unser Seminar ASS bei Betroffenen habe ich die Ehre, Sie und ihre Erfahrungen mit Autismus meinen Kommilitonen*innen vorzustellen.
Ihre ersten beiden Bücher habe ich Innerhalb von zwei Tagen gelesen und ich habe so viel Neues über Autismus und den Umgang damit gelernt. Die Briefe, Träume und Gedanken haben mich sehr bewegt und verschiedene Gefühle in mir hervorgerufen. Danke!
Viele Fragen konnte ich durch Ihre Bücher bereits beantworten, jedoch würden mich ein paar Fragen noch brennend interessieren! Ich würde mich freuen, wenn Sie Zeit und Muße finden, mir eine oder zwei Fragen zu beantworten!

Da im Sommer kommenden Jahres alle Studierende in das Referendariat kommen, sind wir glücklich über jeden Tipp aus erster Hand:

- Welche Tipps, Strategien oder Methoden würden Sie Lehrkräften an Förderschulen an die Hand geben, um Kinder mit ASS möglichst gut im Unterricht zu fördern (speziell auch bei fehlender Lautbildung)?
- Wie kann man als Lehrkraft ein gutes Unterrichtsklima schaffen, in dem sich alle wohl fühlen?
- Welche Wünsche haben Sie an Lehrkräfte (Verbesserungsvorschläge im Vergleich zu Ihrer Schulzeit)?

Wie gesagt, nur falls Zeit besteht!
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Lena Burkhart
 

Antwort vom 15. November 2022

Liebe Lena Burkhart,

gerne beantworte ich Fragen. Das schaffe ich aber heute nicht. Ich verweise Sie auf meine Homepage, www.dietmarzoeller.de. Dort ist auch die Todesanzeige von meinem Vater, der am 04. August gestorben ist, abgedruckt. Meine Trauer ist übermächtig und ich schaffe noch nicht mein normales Arbeitspensum. Wenn Sie wollenkönnen Sie auch Herrn Gomes diesen Hinweis geben.

Meine wichtigste Botschaft für Menschen, die mit Autisten arbeiten wollen: Nehmt ernst, was Betroffene mit oder ohne Lautsprache offenbaren. Die Menschen, die beim Reden oder Schreiben gestützt werden müssen, können glaubhaft berichten, was mit ihnen los ist. Einem Menschen, der autistisches Verhalten zeigt, hilft man in der Regel, wenn man ihm das Gefühl vermittelt, dass man ihn als menschliches Gegenüber ernst nimmt und Wert schätzt. Von mir und meinen autistischen Freunden kann ich glaubhaft berichten, dass wir sehr schnell spüren, ob unser Gegenüber authentisch ist. Es schmerzt außerordentlich, wenn jemand in Frage stellt, dass wir denken können und auch in der Lage sind, Gefühle zu offenbaren.

Viele Grüße,
Dietmar


 

Zweite Antwort vom 18. November 2022

Liebe Lena,

Ich wähle eine vertraute Anrede und biete an, dass man mich Dietmar nennen darf.
Ich war inzwischen tätig und habe die Fragen beantwortet. Ich könnte alles dir schicken, könnte aber auch meinen Webmaster (meinen Neffen David Kinzel) bitten, es auf meine Homepage zu stellen. Dazu brauche ich aber deine Einwilligung und eine Festlegung, ob dein Name und der von Herrn Gomes genannt werden soll/darf. Ich selbst bin im Handeln außerordentlich eingeschränkt und kann nicht meine Texte/Briefe selbst tippen. Ich diktiere, was ich schreiben will meiner Assistentin Palma, die an Wochentagen vormittags bei mir ist. Meine Lautsprache ist nach wie vor für fremde Leute geradezu unverständlich. Palma hat es gelernt, mich zu verstehen, obwohl sie Italienerin ist. Ich warte auf eine Antwort, gebe aber zu bedenken, dass ich am Wochenende keine Assistenz habe, meine Mutter ist erblindet und kann mich nicht mehr unterstützen.

Viele Grüße,
Dietmar

 

Ich beantworte die Fragen, die Lena gestellt hat:

1. Welche Tipps, Strategien oder Methoden würden sie Lehrkräfte an Förderschulen an die Hand geben, um Kinder mit ASS möglichst gut im Unterricht zu fördern (speziell auch bei fehlender Lautbildung)?

Antwort: Angehenden Sonderpädagogen/innen mit einem Fachstudium möchte ich keine praktischen Tipps geben. Ich möchte aber eine Botschaft vermitteln: Geht bitte davon aus, dass die Menschen mit dem merkwürdigen und unverständlichen Verhalten sehr feinfühlig sein können und oft ein sicheres Gespür dafür haben, ob ihr gegenüber authentisch ist. Eine solche Aussage lässt sich natürlich nicht verallgemeinern oder wissenschaftlich begründen. Mit 53 Jahren kann ich glaubhaft vermitteln, dass ich und meine autistischen (Brief)Freunde und Freundinnen, deren Schulzeit lange Vergangenheit ist und die keine normale Lautsprache entwickeln konnten, eigene Gefühle und Beschreibungen offenbart haben, auch dann, wenn sie beim Schreiben/Tippen gestützt werden müssen.
Alle methodischen Ansätze, die im Studium gelehrt werden, zielen ins Leere, wenn keine Kommunikation zustande kommt. Eine Beziehung zu einem autistischen Schüler aufzubauen, ist eine Herausforderung und niemand muss sich als Versager/in fühlen, der diese außerordentlich anspruchsvolle Aufgabe gar nicht oder erst nach langer intensiver Arbeit leisten kann.

2. Wie kann man als Lehrkraft ein gutes Unterrichtsklima schaffen, in dem sich alle wohl fühlen?

Antwort: Was meine autistischen (Brief)Freunde und ich, die nun erwachsen sind und sich an die Schulzeit genau erinnern können, sagen: Wir haben gespürt, ob ein/e Lehrer/in uns als "geistig behindert" hielt. Da unser Hörvermögen immer schon außergewöhnlich war, hörten wir mit, was in Nebenräumen über uns und unsere Eltern geredet wurde. Ich rate dringend, dass Lehrer/innen ernst nehmen, was autistische Personen über ihre Wahrnehmungsproblematik bekannt gegeben haben. Auch rate ich dringend, dass Ergebnisse von Intelligenztests kritisch hinterfragt werden. Ein gutes Unterrichtsklima entsteht, wenn jede/r Schüler/in als Person wahrgenommen wird. Auseinandersetzungen mit Kollegen und Eltern belasten das Klima erheblich, vor allen Dingen dann, wenn gegenseitige Schuldzuweisungen offen oder versteckt ausgetragen werden.

3. Welche Wünsche haben Sie an Lehrkräfte (Verbesserungsvorschläge im Vergleich zu Ihrer Schulzeit)?

Antwort: Statt detaillierter Verbesserungsvorschläge, für die ich gar nicht qualifiziert bin, bekenne Ich freimütig: Ich habe keinen Schulabschluss. Ich habe auch nie einen Schulabschluss angestrebt. Was und wie ich gelernt habe, kann man in meinen 13 Buchveröffentlichungen nachlesen. Ohne Schulabschluss weise ich selbstbewusst darauf hin, dass es zu allen Zeiten anerkannte Persönlichkeiten gegeben hat, die nie eine Schule von innen gesehen haben.

 

Antwort von Lena vom 18. November

Lieber Dietmar,

Vielen Dank für deine (zweite) Antwort!
Zuerst einmal tut es mir sehr leid mit deinem Vater, auch die Erblindung deiner Mutter ist schrecklich. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie du dich aktuell fühlen musst.
Für die nächste Zeit wünsche ich dir viel Kraft!
Wie schön, dass Palma dich versteht und alle deine Gedanken und Gefühle niederschreiben kann.
Sehr gerne darfst du den Text auf deine Website stellen, das ist für mich und Herrn Gomes in Ordnung (auch mit Namen) und wir freuen uns darüber!

Ganz liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Lena


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