Dietmar Zöller

Ein Rundbrief zum Advent 2021


Liebe Verwandte, Freunde und Freundinnen und solche, die es werden wollen,


seit vielen Jahren erwarten Freunde und Verwandte einen
Weihnachtsrundbrief, in diesen Jahr gibt es einen Geburtstagsrundbrief.
Ob ihr es glaubt oder nicht, mein Geburtstag ist mir wichtiger geworden
als Weihnachten, das hat Gründe. Als ich geboren wurde, stand
Weihnachten vor der Tür und ich wurde als Weihnachtsgeschenk betrachtet.
Was dann passierte, ist hinlänglich bekannt. Ich habe früher Fragen
gestellt: warum hat Gott das zugelassen? Wieso hat er mir das Leben
geschenkt? Ich war für den Tod bestimmt. Doch nun ist alles ganz anders
geworden: am 02. Dezember lebe ich 52 Jahre. Ich habe viel Schweres
erlebt, aber auch viel Schönes. Ich bin dankbar für mein Leben, und ich
möchte alt werden. Ich staune, was aus meinem behinderten Leben geworden
ist. Mein Lebensgepäck quillt über wegen intensiver Erinnerungen.
Und nun zu Weihnachten. Das Weihnachtsfest hat mich immer überfordert.
Es waren immer zu viele liebe Menschen um mich herum. Ich floh vor der
Unruhe mit einem schlechten Gewissen, meist war ich erleichtert, wenn
die Gäste nach Hause fuhren.
   Eigentlich bedeutet mir Weihnachten gar nicht mehr viel. Aber ich
halte an der Lichtsymbolik fest. Ich liebe nach wie vor die Lichter am
Weihnachtsbaum, der auf meinem Balkon steht. Der Baum ist in die Höhe
geschossen und fristet sein Dasein in einer Ecke des geräumigen Balkons.
Zur Weihnachtszeit wird er vorgezogen und steht dann vor der Balkontüre.
So war es immer und so soll es bleiben. Im vergangenem Jahr habe ich am
heiligen Abend mit meinen Eltern meinen persönlichen Weihnachtsbaum
angeschaut und dabei Wagners Oper Tannhäuser (die CD war ein
Weihnachtsgeschenk meines Freundes F.) gehört. Wir haben über uns
gelacht und waren uns komischerweise einig, dass die alten
Weihnachtslieder doch etwas kitschig sind. Bitte verachtet uns nicht
deswegen. Ich allein trage die Verantwortung für die Gestaltung des
vergangenen Jahres. Wenn ich an Weihnachten denke werde ich trübsinnig.
Ich sorge mich um diese Welt und habe Mitleid mit den Kindern, die in
diese Welt hineingeboren werden. Ich bete dafür, dass Gott diese Welt
erhält, und dass er die Menschheit nicht dafür bestraft, dass sie die
Schöpfung so schlecht behandelt hat. Wie konnte es passieren, dass die
Reichen dieser Erde die Ressourcen, die für alle hätten reichen können,
für sich verbraucht haben. Ich denke an die Länder, in die ich mit
meinen Eltern gereist bin. Mich hatten immer die Kinder besonders 
interessiert. Ich habe ein Gefühl dafür bekommen, dass wir, die wir aus
einem reichen Land kommen, nicht der Mittelpunkt des Daseins sein
können. Ich bin außerordentlich dankbar, dass ich erfahren durfte, wie
die Kinder in anderen Ländern dieser Welt leben. Wir werden keine Reisen
mehr unternehmen, das ist nicht mehr möglich. Ich bin nicht einmal
darüber traurig. Was ich bruchstückhaft von dieser Erde gesehen und
erlebt habe, erfüllt mich mit Erinnerungen, die meine Sicht vom Leben in
dieser Welt bestimmen. Mein Leben, das dem Tod abgerungen wurde, ist
kein besonderes Leben und doch besonders. Ich bin ein Geschöpf Gottes
und eingebettet in eine Geschichte, die die Geschichte der Menschheit
darstellt. Und nun zurück zu dem autistischen Dietmar, der auf seinem
Bett liegt und vom Weihnachtsbaum träumt, an dem viele Lichter
erstrahlen. Ich träume vom Licht und gebe die Hoffnung nicht auf, dass
ich noch lange leben darf.
Es muss mal darüber gesprochen werden, welche Vorteile es hat, behindert
zu sein. Warum nur raten Ärzte zu einer Abtreibung, wenn offenbar wird,
dass das zu erwartende Kind behindert sein wird. Sehen sie die Mühen,
die die Eltern erwarten oder haben sie das Kind vor Augen das mit einer
Behinderung leben muss? Wer hat das Recht, über leben oder Tod zu
entscheiden? Wer kann voraussehen, wie sich ein behindertes Leben
entwickelt? Mein Leben wurde gerettet, als ich mit wenigen Monaten dem
Tod nahe war. Ich konnte nicht gefragt werden, ob ich leben wollte, auch
meine Mutter wurde nicht gefragt, ob man um mein Leben kämpfen sollte.
Ich habe in düsteren Stunden oft gefragt, warum man mich nicht hat
sterben lassen. Aber heute weiß ich genau, warum ich überlebt habe.
Vielleicht lebe ich, um eine Botschaft zu verbreiten, die Botschaft
heißt: Jedes Leben ist ein Geschenk. Jedes Leben hat einen unschätzbaren
Wert.

Warum ist der Geburtstag ein wichtiger Tag im Jahr? Eine gute Freundin,
die Zeit ihres Lebens unter Depressionen litt, wollte nicht an ihren
Geburtstag erinnert werden und floh vor den Glückwünschen, die gute
Freunde ihr zukommen lassen wollten. Um ihren 80. Geburtstag herum war
sie verreist und nicht erreichbar. Von etlichen alt gewordenen Personen
weiß ich, dass sie Telefonanrufe vermerkten und andere Formen von
Glückwünschen genau im Gedächtnis behielten. Ich selbst kann mich an
Zeiten erinnern, als es mir lästig war, Geburtstagsgeschenke auspacken
zu müssen. "Happy Birthday", gesungen von meiner Familie, beleidigte
meine überempfindlichen Ohren. Gut gemeinte Kuchenschlachten
begeisterten die anderen, aber nicht mich! Mich konnte man
ausschließlich mit Schokolade beglücken, aber nun ist alles anders
geworden. Mein 40. Geburtstag im teurem Hotel Alber wurde zelebriert,
war ein gelungenes Fest, das ich genießen konnte. Zehn Jahre später
organisierten wir in jenem Hotel ein noch glänzenderes Fest. Ich genoss
es, im Mittelpunkt zu stehen. Jeder Geburtstag, der feierlich begangen
wird, ist ein Bekenntnis zum Leben. Das Leben ist das eigentliche
Geburtstagsgeschenk. Ich wünsche jedem, der Geburtstag hat, dass er
erkennt: Mein Leben ist ein Geschenk. Am Geburtstag möchte ich mir
bewusst machen, dass es Menschen gibt, die mich als Geschenk betrachten.
Ich möchte ein Geschenk für Menschen, die noch nicht realisiert haben,
wie wertvoll sie sind. Auch ein Leben mit Einschränkungen oder
Behinderungen hat einen hohen Wert, der aber leider oft viel zu spät
gesehen wird.

Es grüßt euch/Sie herzlich,

Dietmar Zöller

 

 
 

24.11.21 Alle Jahre wieder...

 

Breitet Hektik sich aus wenn der Dezember naht.

Alle Jahre wieder

Beginnen schwäbische Hausfrauen früher mit dem Weihnachtsputz.

Alle Jahre wieder

Beginnen ungeduldige Zeitgenossen mit der Weihnachtsdekoration.

Alle Jahre wieder

Gibt es Stress wegen Weihnachtsgeschenken, die manch einer nicht braucht.

Alle Jahre wieder

Zermartert sich die Hausfrau den Kopf, was sie kochen soll.

Nun aber ist alles anders geworden.

Politiker müssen reumütig bekennen, dass sie sich geirrt haben und dass sie zu langsam

und zu spät den ernst der Lage erkannten.

Keiner wagt, es laut auszusprechen, aber das ist die Realität.

Weihnachten muss ein Fest der Isolation werden.

Gäste sind unerwünscht, die Hausfrau entlastet.

Wer kennt das Lied auswendig?

Alle Jahre wieder kommt das Christuskind auf die Erde nieder wo wir Menschen sind.

Wer mag, möge sich in einen Stall begeben und ein Kind in der Krippe anbeten.

Den Kindern, die im Dezember geboren werden, wünsche ich, dass sie alle Jahre wieder

Von Weihnachten verzaubert werden und einen Stern der Hoffnung erblicken.

 


10.11.21 Das andere Weihnachten

 

Aus dem anderen Weihnachten wird nichts.

Corona hat uns wieder fest im Griff.

Ratlos treten die Politiker im Fernsehen auf

und haben Bedenken zuzugeben, dass es ein Fehler war

apodiktisch zu erklären, eine Impfpflicht gibt es für uns nicht.

Und nun winden sie sich und wollen nicht zugeben, dass sie eigentlich

dafür waren, die Impfpflicht einzuführen.

In Stuttgart hat man bereits einen riesengroßen Weihnachtsbaum aufgestellt.

Ich aber zögere, meinen persönlichen Weihnachtsbaum vor die Balkontüre zu schieben.

Vielleicht schäme ich mich, wenn ich mich zu Weihnachten bekenne.

Alles ist anders als in der Vergangenheit, als ich ohne darüber nachzudenken

den Weihnachtsschmuck einforderte.

Ich kann die heile Welt nicht finden und denke darüber nach,

ob es die heile Weihnachtswelt je gegeben hat.

Ich brauche keinen Weihnachtsmarkt,

keine gebrannten Mandeln und keinen Punsch.

Ich brauche meine Ruhe und bin froh, wenn ich dem Weihnachtsrummel entkommen kann.

Weihnachten ist anders geworden.

Möge Weihnachten ein Fest der Ruhe und Besinnung werden.


 

 

 10.11.21 Der Weihnachtsbaum auf meinem Balkon

Ich hatte wie jedes Jahr auf dem Balkon einen Weihnachtsbaum, der während der Adventszeit seine Lichterkette erstrahlen ließ. Aber auch der schönste Weihnachtsbaum überstand den Sommer nicht, nicht einmal der Prachtbaum aus Mecklenburg-Vorpommern, den Friedemann mitbrachte, überstand den Sommer. Resigniert kaufte Vater ein Bäumchen, dass so klein und hässlich war, dass ich es am liebsten auf den Müll geworfen hätte, aber was wurde aus diesem Weihnachtsbaum, der den Namen Weihnachtsbaum gar nicht verdiente? Kommt und schaut euch mein Weihnachtsbaum an, er ist inzwischen größer als ich und seine Zweige sind gleichmäßig gewachsen. Dieser Baum wurde zum Sinnbild meines Lebens. Er ist ein Beispiel dafür, wie sich das kleine und hässliche zu einem Naturwunder entwickeln kann. Mein Lebensbaum steht ab dem ersten Advent vor meiner Balkontüre. Es ist etwas Großes und Schönes entstanden, ich schaudere vor diesem Naturwunder.

 

 

 

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