Dietmar Zöller

Körpersprache

 

August 2020

Gedanken zur Körpersprache von Menschen aus dem Autismusspektrum

 

Mein besonderes Interesse gilt den Personen aus dem Autismusspektrum, die keine Lautsprache anwenden können.

Wichtig aber ist, dass der Mensch mitteilen kann, was seine Bedürfnisse sind. Ich würde gern möglichst viele Bezugspersonen von nichtsprechenden Autisten befragen, wie sie sich verständigen. Verständigung gelingt in manchen Fällen ohne Sprache. Der Körper hat viele Ausdrucksmöglichkeiten. Ich selbst kann die Körpersprache anderer Menschen außerordentlich gut lesen. Ich habe schon als Kind registriert, dass sich meine eigene Körpersprache von der anderer Menschen unterscheidet und das sich andere von mir distanzieren. Ich habe die Vermutung, dass auch sogenannte Asberger-Autisten wegen ihrer Körpersprache fremd wirken und sich mit recht ausgegrenzt fühlen. Das läuft alles unbewusst ab. Die, die jemanden ausgrenzen, sind sich oft gar nicht bewusst, warum sie ihr Gegenüber anders erleben.

 

Was man über nichtsprechenden Autisten wissen sollte

1.     Man sollte nicht vom Erscheinungsbild und dem Verhalten auf das geistige Potential schließen.

2.     Übliche Intelligenzteste greifen nicht, weil die mögliche Mitarbeit starken Schwankungen unterliegt.

3.     Erreichte Fähigkeiten sind nicht immer verfügbar und darum nicht prüfbar. Was heute geht, ist unter Umständen morgen nicht möglich.

4.     Oft lernen die Kinder leicht lesen, was man ihnen unter Umständen gar nicht zutraut.

5.     Buchstabenkenntnisse können das Schreiben möglich machen. Das kann ein mühsamer Weg werden und viele Jahre in Anspruch nehmen. Das Stützen beim Schreiben ist notwendig, damit die Schreibhand gespürt wird. Es geht um ein Problem der Körperwahrnehmung.

6.     Mimik und Gestik sind schwach ausgebildet und können im Widerspruch zu dem stehen, was geschrieben wird. Das hat zu allen Zeiten Zweifler auf den Plan gerufen.

7.     Das Schreiben setzt das Denken in Gang und fördert die Fähigkeit, Zusammenhänge zu verstehen und auszudrücken.

8.     Das Schreiben sollte ein Leben lang gefördert werden, auch dann, wenn der Proband gestützt werden muss.

9.     Eine Kommunikation über das gestützte Schreiben ist besser als keine Kommunikation.

10. In Ausnahmefällen wird über das Schreiben eine lautsprachliche Verständigung möglich, die aber eingeschränkt bleiben kann.

 

 

 

In zahlreichen Veröffentlichungen habe ich den Begriff „Handlungsstörungen“ benutzt, wohl wissend, dass der Begriff die Problematik nur ansatzweise beschreiben kann. Handlungsstörungen sind nach meinem Verständnis eng verknüpft mit den Wahrnehmungsstörungen. Wahrnehmungsstörungen unterbrechen den Handlungsablauf und führen dazu, dass das Handlungsziel aus dem Bewusstsein verschwindet.

 

Die Frage, warum Personen aus dem Autismusspektrum Probleme behalten, mit ihrem sozialen Umfeld zurecht zu kommen, warum sie oft einsam bleiben und in manchen Fällen Mobbing ausgesetzt sind, bleibt ein Rätsel. Da ich immer klarer sehe, dass Verallgemeinerungen der autistischen Problematik nicht gerecht werden, berichte ich von mir selbst, wohl wissend, dass ich meine Selbstbeobachtungen und Selbstreflektionen nicht einfach auf andere autistische Personen übertragen lassen. Hier ein Beispiel, das ich erlebt habe: Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass es mir gut tat, wenn mein Freund, der kein Autist ist, mich umarmte. Ich spürte den inneren Drang, ihn zu umarmen, um ihm meine Gefühle zu zeigen. Das Experiment ging schief. Ich wusste nicht, was ich mit meinen Armen tun musste, um meine Gefühle auszudrücken. Für Außenstehende waren meine Verrenkungen absolut unverständlich. Meine Mutter, die anwesend war, ermahnte mich, weil sie mein Verhalten als lästig für meinen Freund einschätzte. Ich kann mein eigenes Verhalten deuten. Ich habe als Kind erlebt, dass in vielen Situationen mein Körper nicht ausdrückte, was ich empfand. Ich habe meine Selbstbeobachtungen in früheren Veröffentlichungen „Handlungsstörungen“ genannt. Diese Störungen manifestierten sich als Störungen beim Tun. Ich wusste theoretisch, wie zum Beispiel etwas gekocht oder gebacken werden musste. Aber ich hatte einen Blackout, wenn ich tun sollte, was ich theoretisch konnte. Ähnlich war es beim Sprechen. Ich wusste, was ich sagen wollte, führte innere Gespräche, aber ich konnte das Gedachte nicht in Motorik umsetzen. Und nun zurück zum Sozialverhalten: Meine Gefühle waren immer sehr intensiv. Ich empfand Liebe und Zuneigung, ohne das meinem Gegenüber zeigen zu können. Ich möchte gern wissen, ob sich meine Selbsterfahrungen auf andere Personen aus dem Autismusspektrum übertragen lassen. Ich stelle die Hypothese auf, die Probleme im Sozialverhalten bei Personen aus dem Autismusspektrum haben in vielen Fallen damit zu tun, dass die Körpersprache der Personen nicht stimmig ist. Sie können mit dem Körper nicht ausdrücken, was sie empfinden. Außenstehende, zum Beispiel Lehrer, Chef, Kollegen, missverstehen oft die merkwürdige Körpersprache und reagieren verständnislos. Meine Hypothese bedarf einer wissenschaftlichen Überprüfung. Die Körpersprache von möglichst vielen Personen mit der Diagnose Asbergerautismus müsste genau beschrieben werden. Mein Buch „Autismus und Körpersprache. Störungen der Signalverarbeitung zwischen Kopf und Körper“ erschien 2001. Es war eine Auftragsarbeit von Prof. Reinhard Krüger, der im Juni 2018 verstarb. Prof. Krüger begleitete die Entstehung meines Manuskriptes und legte auch den Titel „Autismus und Körpersprache“ fest. Das Buch erschien dann in der Reihe „Körper Zeichen Kultur“ mit einem Vorwort von Prof. Krüger. Ich gestehe, dass mir der Titel nicht gefiel. Heute denke ich darüber anders. Prof. Krüger hat offensichtlich früher als ich selbst erkannt, dass sich mein Autismus vor allen Dingen durch eine ungewöhnliche oder fehlende Körpersprache zeigt. Alle Beschreibungen meiner Verhaltensweisen lassen sich unter der Überschrift „Körpersprache“ subsummieren. Ich behaupte heute, mein Körper drückt nicht aus, was ich denke und empfinde. Das verunsichert die Menschen, die mich kennen oder kennenlernen wollen. Mir ist schon im Vorschulalter bewusst geworden, dass ich anders bin als die Kinder, die ich kannte, aber unter denen ich ein Fremdling war. Schon als Kind habe ich verwundert festgestellt, wie anders sich Menschen bewegten und was sie mit Mimik und Gestik zum Ausdruck brachten. Die Körpersprache meiner Mitmenschen konnte ich gut lesen und verstehen. Es sind Bilder erhalten, die ich als Kind oder Jugendlicher malte, die deutlich zeigen, dass ich ein besonderes Interesse an der Körpersprache der Menschen hatte.

Wie versteht Krüger den Begriff „Körpersprache“? Für ihn gehört das Handeln, also die Ausführung von Intentionen so wie das Sprechen genauso dazu bzw. das Nichtaussprechen, was als Gedanke längst formuliert wurde. Er hat offenbar kein Problem damit, gestützt geschriebene Äußerungen als authentisch anzusehen. Für ihn sind Gedanken, Absichten und die Bereitschaft zur Kommunikation im Kopf der autistischen Probanden entwickelt. Aber es fehlen die Signale, die bis in die aufnehmenden Bereiche des Körpers tätig sind. Dieser Ansatz erscheint mir plausibel und passt zu meinen persönlichen Erfahrungen. Nun, da ich bereits 50 Jahre mit Autismus hinter mir habe, ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch Gefühle, Gedanken, Absichten im kommunikativen Leben von dem Grundproblem der gestörten Signalverarbeitung zwischen Gehirn und Körper bestimmt werden. Der Körper drückt gar nicht oder nur ansatzweise aus, was die Person empfindet und gern dem Gegenüber vermitteln möchte.


 

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