Dietmar Zöller

Wenn Spracherwerb nicht zum Sprechen führt

Den folgenden Text von 2010 habe ich hervorgeholt, weil ich ihn wichtig finde.


Ich habe spontan keine Sprache erworben. In einem psychologischen Gutachten wird erwähnt, dass ich mit ca. zwei Jahren lediglich die Silbe mi aussprechen konnte und diese Silbe auch kommunikativ eingesetzt habe, wenn ich trinken oder essen wollte.

Eine intensive verhaltenstherapeutisch orientierte Sprachanbahnung schien zunächst erfolglos zu sein, führte dann aber doch dazu, dass ich mit fünf Jahren jedes Wort nachsprechen konnte. Es hatte zweieinhalb Jahre intensivster Übungen bedurft, bis ich 362 Wörter sicher nachsprach. Danach wurde nicht mehr protokolliert. Es kamen neue Wörter hinzu, die nicht geübt worden waren. Trotz dieses Erfolges schaffte ich es nicht, so sprechen zu lernen, dass ich mich mit fremden Menschen verständigen konnte. Ich war zwar bald in der Lage, mir auszudenken, was ich sagen wollte, aber ich scheiterte an der motorischen Anforderung. Ich konnte nicht motorisch umsetzen, was ich sagen wollte. Was meinen Mund verließ, hörte sich anders an als das, was ich in meiner Vorstellung hörte. Ich sprach auch zu leise und kraftlos, so dass mein Vater oft nachfragte: „Hat er etwas gesagt?“ Ich konnte also nicht sprechen, obwohl ich Sprache erworben hatte.

Mein Sprachverständnis war, als ich fünf Jahre alt war, sehr gut.  Meine Mutter hat mein Sprachverständnis weit bis ins Schulalter auf verschiedene Weise getestet. Sie war sehr skeptisch, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass ich inzwischen so vieles verstand, was sie mir nicht beigebracht hatte. Denn am Anfang, als sie mit der gezielten Förderung begann, entsprach der Output dem Input. Ich meine, rückblickend behaupten zu können, dass ich zu allen Zeiten mehr verstanden habe, als man mir zugetraut hat. Mein außergewöhnlich gutes Gehör hat mit dazu beigetragen, dass ich ein gutes Sprachverständnis entwickelte. Ich spielte ja nicht, und darum konnte ich meine Aufmerksamkeit dem zuwenden, was ich bewusst hörte, wobei ich aber zu allen Zeiten Mühe hatte, die chaotischen Signale auszublenden.

Es ist mir wichtig zu betonen, dass jemand, der nicht oder nicht verständlich spricht, sehr wohl über ein gutes Sprachverständnis verfügen kann. Nicht sprechen zu können, muss nicht bedeuten, dass jemand nichts zu sagen hätte. Irgendwie hängen Sprachverständnis und Denkvermögen zusammen.

Als ich schreiben konnte, wurde schnell deutlich, dass ich intellektuell gar nicht beeinträchtigt war, wie man selbstverständlich angenommen hatte. Man macht einen großen Fehler, wenn man nichtsprechende Autisten einfach zu den Geistigbehin-derten zählt.

Mit 19 Jahren begann ich noch einmal eine Sprachtherapie, weil ich unbedingt so sprechen lernen wollte, dass mich alle verstanden.  Ich schrieb der Therapeutin: „Ich spreche die Konsonanten zu schlecht, obwohl ich es manchmal kann. Ich muss zu viel dabei denken, weil es nicht automatisch geht.“  Es gab keine bleibenden Erfolge, und so gab ich die logopädische Behandlung nach acht Jahren auf, obwohl mir die Logopädin eine verständnisvolle Freundin geworden war.

Warum gab es keinen durchgreifenden Erfolg, obwohl der Einsatz und der therapeutische Aufwand so groß waren? Ich meine, dass es das Problem der gestörten Willkürmotorik war und bis heute geblieben ist. Ich schaffe das deutliche Sprechen so schlecht, weil ich den Bewegungsverlauf mühsam suchen muss, bevor das Gewünschte herauskommt. Ich muss ja immer noch überlegen, was ich mit meinem Mund und mit der Zunge tun muss, damit ich einen Laut willkürlich produziere. Es ist aber auch ein Problem der taktilen Wahrnehmung. Meist kann ich gar nicht spüren, ob z.B. meine Zunge den Gaumen berührt. Gerade im Mundbereich ist die taktile Wahrnehmung sehr schlecht.

Eigentlich treten beim Sprechen ähnliche Probleme auf wie beim Handeln. Ich muss Bewegungen planen, dann ausführen, was nicht automatisch, sondern bewusst abläuft. Die nötige Spannung der Mundmuskulatur lässt sich nicht aufbauen. Die Wörter, die ich artikuliere, sind darum schwer verständlich, auch kraftlos. Ich artikuliere immer nur ungefähr richtig. Deutliches Artikulieren hat nach  meiner Erfahrung viel mit Körperspannung und taktiler Wahrnehmung zu tun. An manchen Tagen, wenn ich mich besser spüren kann, kann ich auch deutlicher sprechen. Bis heute klappt die sprachliche Verständigung ohne Probleme nur mit meiner Mutter. Mit meinem Vater und wenigen vertrauten Personen klappt es manchmal.

Die Notwendigkeit des fließenden Atems beim Sprechen ließ ich bis jetzt unerwähnt. Mein Atem reicht gar nicht aus für einen längeren Satz, und offensichtlich kann ich nicht lernen, das willkürlich zu regulieren.

Wenn ich solche Probleme habe, die einzelnen Wörter zu Sätzen zu verbinden, so dass eine Sprachmelodie entsteht, dann erinnert mich das sehr an das Handlungsproblem, nämlich die einzelnen Handlungssegmente zu einer Handlungskette zu verbinden. Es handelt sich wohl um ein Problem der disharmonischen Innervierung der Muskeln, die für eine Handlung oder für das Sprechen wichtig sind.

us