Dietmar Zöller

Natur und Kultur entlang der Seidenstraße



Natur
und Kultur entlang der Seidenstraße
In
Usbekistan und Kirgistan

27.08.-13.09. 2012
Aus meinem Reisetagebuch
Seidenstraße. Der Traum von der Seidenstraße wird in
unserer Familie schon etliche Jahre geträumt, und immer haben wir gewusst, dass wir einem Phantom nachjagen, denn die eine Seidenstraße hat es nie gegeben, sondern seit vorchristlicher Zeit Handelswege von China bis Venedig und von China bis zum Don. Es waren viele Wege, ausgetreten von Karawanen, die nicht nur Seide transportierten, sondern auch Gewürze und andere Handelsware. Eine Karawane war oft 8 Jahre unterwegs, und nicht alle erreichten ihr Ziel. Von Straße konnte keine Rede sein. Trampelpfade waren es. Oft sackte man im Schlamm ein. Ein Herr von Richthofen prägte 1888 den Namen Seiden-straße, und so entstand der Mythos, der mit dem Begriff assoziiert wird. Die kostbare Seide aus China war ein begehrtes Handelsgut, und lange Zeit wusste man nur in China, wie man die kostbaren Seidenfäden zu Stoffen verarbeitet. Der Legende nach soll es eine chinesische Prinzessin gewesen sein, die in eine ferne Provinz verhei-ratet wurde, die im Haarknoten Seidenraupeneier außer Landes brachte. Irgendwann war es dann so weit, dass auch in anderen Ländern Seide produziert werden konnte. Seide war ein kostbares Handelsgut, und nur die Reichen konnten sich Kleider aus Seide leisten. Wir fuhren schon vor etlichen Jahren im Iran auf den Spuren der sogenann-ten Seidenstraße und machten in mancher Karawanserei Rast. Wenn wir noch die Reise von Peking in den Westen Chinas bis  Turfan machen könnten, dann hätten wir eine Vorstellung von den 10000 km langen Handelswegen, die Menschen zurücklegten, als Kamele das einzige Transport-mittel waren. Meine Bewunderung kennt keine Grenzen, wenn ich daran denke, welche Strapazen die Menschen zu allen Zeiten auf sich genommen haben, um mit anderen Kulturen in Verbindung zu treten.
29.08.
Als wir in Taschkent gelandet waren, glaubte ich, bald im
Hotel anzukommen. Aber ich hatte mich getäuscht. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wir alle Kontrollen hinter
uns hatten. Da waren so viele Einheimische zur selben Zeit angekommen – man vermutete, aus Almaty in Kasachstan – die den Verkehr blockierten, weil sie unzählige Kisten, Kästen und Taschen, die sorgfältig in Folie verpackt waren, durch den Zoll bringen mussten. Das konnte nur Handels-ware sein, kein Urlaubgepäck. Im Vergleich dazu nahm sich unser Gepäck sehr bescheiden aus. Aber warten mussten wir trotzdem. Ich konnte das Stillstehen in der Schlange mal wieder nicht aushalten, und so bekamen wir durch die freundliche Vermittlung unseres Reiseleiters Kay eine Sonderbehandlung. Aber warten mussten wir nun auf der anderen Seite, bis auch die anderen aus unserer Reisegruppe abgefertigt waren.
Da standen wir mit unserem Gepäckwagen und konnten beobachten, wie die Usbeken einen schweren Kampf mit ihrem Gepäck auszufechten hatten. Einer Frau fielen die vielen Kisten und Taschen vom Wagen. Kleidungsstücke lagen auf der Erde, und alles musste wieder eingesammelt
werden. Ich war so nervös, dass ich dauernd von meinem eigenen Klatschen überrascht wurde. Dann war es so weit. Ein Bus wartete auf uns und fuhr uns durch das abendliche Taschkent zum Hotel. Ich hätte im Stehen schlafen können,
so müde war ich. Beim Abendessen ein Blick in die Runde. Ich war zufrieden, als ich in lauter vertrauenserweckende Gesichter blickte. Das waren die Leute, mit denen ich 18 Tage unterwegs sein würde.
Am nächsten Tag Rundfahrt durch Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans. Die Stadt, die stark russisch ge-prägt ist, beeindruckte mich nur mäßig. Seit 1993 steht im Zentrum von Taschkent das neue Symbol des usbekischen Nationalbewusstseins: ein Denkmal Timurs (1336-1404). Er gilt als bedeutendster Herrscher Mittelasiens. Es wird vermutet, dass Timur Lenk das Reich Dschingis Chans wiedererrichten wollte. An der Stelle seines Reiterdenkmals standen früher einträchtig Marx und Engels, deren Stand-bilder weggeschafft wurden. Das Denkmal Timurs in Taschkent ist Sinnbild des neuen usbekischen Geschichts-verständnisses.
Ich war gespannt auf Samarkand, wohin wir nach der
Stadtrundfahrt aufbrachen. Wir bekamen unterwegs manche interessanten Informationen. Dieses geschichts-trächtige Land wurde russische Kolonie. 1865 eroberten die Russen Taschkent. 1867 entstand das russische Generalgouvernement Turkestan mit Sitz in Taschkent. Bis 1991 gehörte Usbekistan zur Sowjetunion.
Die Menschen hier sprechen Russisch und Usbekisch. Heute erklärte Arthur von der usbekischen Reiseagentur, der gut Deutsch spricht, er lebe in zwei Sprachen. Wenn man ihn auf Usbekisch anspreche, antworte er usbekisch, wenn man ihn auf Russisch anspreche, reagiere er russisch und merke das nicht einmal. Während wir bei anderen Reisen mit Englisch gut durchgekommen waren, hätten wir hier Russisch können sollen. Kay und viele Mitreisende aus
der früheren DDR können sich auf Russisch verständigen. Russisch und Usbekisch klingt in meinen Ohren absolut fremd.


Die Usbeken, die ich bis jetzt wahrgenommen habe, waren
mir gegenüber sehr aufmerksam. Bei der Passkontrolle am Flughafen von Taschkent kam ein Beamter, der mich beobachtet hatte, auf uns zu und schleuste uns an der
offiziellen Kontrolle vorbei auf die andere Seite. Und im Museum wurde mir zwei Mal ein Stuhl angeboten. Es waren jeweils Frauen, die Souvenirs verkauften wollten, die für mich ihren Platz frei machten.
Ich bin beeindruckt von der Geschichte dieses Landes, die
ich bis jetzt nur in Bruchstücken kannte. Manche Zusam-menhänge werden deutlich.
Manches, was ich bei früheren Reisen lernte, bekommt einen Platz in einem größeren Zusammenhang. Die Mongolenstürme unter Dschingis Chan – Dschingis Chan
wurde 1206 Chan der Mongolen – haben hier gewütet und Samarkand zerstört. Dschingis Chan war mir ein Begriff, nachdem wir vor 8 Jahren eine Reise in die Mongolei unternommen hatten. Aber Dschingis Chan gehört ins Mittelalter. Was in diesem Land vorher alles passiert war, übersteigt meine Fantasie. Kyros II., der Große, vor dessen
Grabmal ich im Iran gestanden hatte, soll 559 in diesem Land umgekommen sein, und das durch eine Königin mit dem Namen Tomyris. Sie war Königin der Massageten. Man soll Kyros in einen Hinterhalt gelockt haben. Sein Haupt soll abgeschlagen worden sein und in einem mit Blut gefüllten Sack auf die Rückreise nach Persien geschickt worden sein.
Alexander der Große nahm 329 vor Chr. Samarkand ein und gründete  das Reich Baktrien, dessen Hauptstadt Samarkand, damals Marakanda genannt, wurde. Alexander nahm eine Frau aus diesem Land, die schöne Roxane, die er sehr geliebt haben muss, die aber nach Alexanders Tod in den Wirren um die Nachfolge, zusammen mit ihrem Kind umkam. Wir standen auf dem Ausgrabungsgelände, das von weithin zu sehen ist, weil es höher gelegen ist als
das neue Samarkand. Es ist ein komisches Gefühl, wenn man hier sich vor Augen führt, wie die Geschichte Spuren hinterlassen hat. Im Museum sah man auf Überblickskarten die Verteilung der Reiche in jener Zeit. Dass der griechi-sche Einfluss so früh und in einem solchen Ausmaße diese Gegend bestimmt hatte, war mir nicht bewusst gewesen.
Am späten Nachmittag dann endlich Besuch des Registans in Samarkand, von dem ich schon viele Bilder gesehen hatte. Die islamische Baukunst begeistert mich, hat mich auch schon vor Jahren im Iran begeistert. Ich denke an Isfahan, wo wir manche Stunde auf dem großen Platz verbracht haben und uns nicht satt sehen konnten an den gewaltigen Kuppeln der Moschen. Hier auf dem Registan sind es die Medresen (Koranschulen) mit den wunderbaren Innenhöfen, die zum Verweilen einladen. Ich mag die Fayenzen, die aber am schönsten wirken, wenn man sie nicht isoliert betrachtet, sondern im Gesamtkunstwerk wahrnimmt.
In einem kleinen Verlies werden uns traditionelle
Musikinstrumente vorgestellt. Die Musik der Usbeken klingt für meine Ohren fremd, aber sie gefällt mir. Einige CDs haben wir schon im Reisegepäck.
30.8.
Die Usbeken haben nach der Erlangung der Unabhängig-keit im Jahre 1991 ein starkes Nationalgefühl entwickelt und sich auf ihre eigene Geschichte besonnen. Und die beginnt mit Timur, der auch Tamerlan genannt wird.
Leider war ich nicht mit im Mauseleum, wo Timurs Über-reste, die ausgegraben wurden, beigesetzt sind. Man hat festgestellt, dass Timur Tuberkulose hatte und eine Fehlbildung, die dazu führte, dass er hinkte. Daher der Name Timur Lenk, was heißt Timur, der Lahme.
Ich verbrachte diesen Tag im Hotelzimmer, weil ich eine
Toilette in der Nähe brauchte. Hungern musste ich, aber viel trinken, auch Wasser mit den schrecklichen Kohle-tabletten. Eigentlich wollten wir noch mal zum Registan laufen, aber ich fühlte mich zu geschwächt. Den Registan werde ich aber trotzdem als Gesamtbild in meiner Erinnerung behalten. Es ist wirklich einer der schönsten Plätze, die ich gesehen habe.
Ich fühle mich in dieser Reisegruppe wohl. Kay, der
Reiseleiter, ist ein Jahr jünger als ich und mir sehr gewo-gen. Er betont immer wieder, wie gut er es findet, dass wir diese Reise mitmachen. Die Reise wurde als Insiderreise angeboten. Das hat seine Berechtigung. Kay, der studierte Ethnologe, hat ein großes Wissen und gibt viele Erklä-rungen. Ich wundere mich, dass Kay nie ein Papier als Gedächtnisstütze benutzt. Alle Vorträge hält er frei. Es ist eine besondere Reise mit hervorragenden Bildungsan-geboten.
1.9.
Der 1. September ist in Usbekistan Nationalfeiertag, 21.
Staatsgründungstag.
Ein verkorkster Tag in dem schönen, altehrwürdigen
Buchara. Eine Stadtwanderung bei 36 Grad im Schatten hat mich überfordert. Ich bin von einer großen Unruhe besessen. Wir hocken im Hotelzimmer und blasen Trübsal. Dabei wären wir so gern in der Altstadt herumflaniert.
2.9.
Während wir in Buchara auf einer Bank sitzen, kommt ein Junge von etwa 12 bis 13 Jahren auf uns zu und spricht uns auf Deutsch an. In der Schule hat er nicht Deutsch gelernt, aber von Touristen, deren Aussprüche er auf-schrieb und auswendig lernte. Ein intelligentes, hell waches Gesicht. Er bat um deutsche Münzen, die wir aber nicht bei uns hatten.
4.9.
Von Buchara nach Chiwa fährt man durch die Wüste
Kisilkum, die aber über weite Strecken nicht wie eine Wüste aussieht. Dank des Flusses Amudarja konnte das Land bewässert werden, so dass Baumwolle und stellenweise sogar Reis angebaut werden kann. Auch Tiere gibt es in der Wüste Kisilkum, z.B. die Karakulschafe, die von Nomaden gezüchtet werden und aus deren Fellen die kostbaren Persianerpelze gefertigt werden. Kay berichtete,
dass die kostbarsten Felle die von ungeborenen Lämmern sind und dass manchmal Mutterschafe geschlachtet werden, um an die kostbaren Felle zu kommen. Man
begründet diese grausige Vorgehensweise damit, dass die Mutterschafe sowieso nur eine Lebenserwartung von sechs Jahren haben. Karakulschafe gibt es auch im Iran. Sie wurden auch nach Afrika (Namibia) gebracht und werden dort gezüchtet.
Die Straße ist holprig und verlangte den Busfahrern, die
sich abwechselten, viel Geschicklichkeit ab. Wenige Straßenabschnitte waren von der deutschen Firma Papenberg fertig gestellt worden – deutsche Wertarbeit –
andere Straßenabschnitte, für die Koreaner verantwortlich waren, misslangen und warten auf eine Nachbesserung. Den ganzen Tag lang schaukelten wir durch die Wüste. Mehrere Lastzüge mit der Aufschrift Willi Betz überholten wir. Die Firma soll nach Bulgarien verlegt worden sein. Die Autos transportieren Material für die
Bundeswehr in Afghanistan.
Einige aus der Gruppe haben Probleme mit der Reise-krankheit, was dazu führt, dass die Suche nach einem Toilettenplatz oder -busch zu einer lebenswichtigen Aktivität
wird. In der Wüste sind die Büsche, hinter denen man sich verstecken kann, rar. Lustig, wie die Leute ausschwärmen und erleichtert zum Bus zurückkehren.
Wir kamen nach Sonnenuntergang in der kleinen Stadt Chiwa an, die wie ein Museum wirkt. Mitten in der Altstadt unser Hotel. Abendessen im Innenhof unter Baldachinen und vereinzelten Bäumen. Vorzügliches Essen wie an
den Tagen vorher. Ich schlage zu, obwohl mein Stuhl immer noch nicht wieder gut ist. Sogar Suppe habe ich gegessen, die ich normalerweise stehen lasse. Am Morgen Stadtspaziergang. Die islamische Architektur lässt die Altstadt tatsächlich erscheinen, als spielten hier die Märchen aus Tausend und einer Nacht. Die Sonne blendet mich so stark, dass ich wie blind durch die Gegend laufe und keinen Schritt allein tun kann. So ist es nur folgerichtig, dass ich mich mit Mutter von der Gruppe absetze, den Hotelgarten aufsuche und mein Reisetagebuch weiterschreibe.
Gestern während der langen Busfahrt gab Kay eine
Einführung in den Islam. Er machte das sehr gut, aber ich stellte fest, dass ich das meiste wusste. Lediglich die komplizierten Auseinandersetzungen um die Nachfolge Mohammeds brachten auch für mich neue Erkenntnisse. Einzelheiten lasse ich weg, um potentielle Leser meines Reiseberichtes nicht zu langweilen.
Warum sich Schiiten und Sunniten, die den gleichen Koran benutzen, bekämpfen, werde ich nie begreifen. Der Islam in Usbekistan scheint gemäßigt zu sein. Und doch wusste Kay zu berichten, dass eine kleine Gruppe von fundamenta--listischen Muslimen etwas mit der Vorbereitung des 11. Septembers zu tun gehabt habe. Auch sollen Usbeken in Pakistan zu extremistischen islamischen Gruppierungen
gehören. Das ist alles etwas undurchsichtig. Ich bewundere Kay, was er alles über die Zusammenhänge zu berichten weiß. Er ist sehr geschickt, wenn es darum geht, der Gruppe mal wieder einen kleinen Vortrag zuzumuten.
Als gestern während der langen Busfahrt die Stimmung zu kippen drohte, las Kay uns eine Geschichte von einem berühmten persischen Dichter vor. Ich erinnerte mich, dass
wir während unserer Reise durch den Iran dem Dichter Ferdausi in der Gegend von Mashad begegnet waren. Dort hatte man Ferdausi ein Denkmal gesetzt. Das Märchen, das Kay vorlas, kam gut an, und eine Fortsetzung wurde gewünscht. Nun war die Stimmung wieder gut.
Wenn die Hitze nicht den Organismus so belasten
würde. Ich halte während dieser Reise weniger aus als während der Reisen in der Vergangenheit. Woran das liegt, darüber kann man spekulieren. Baue ich ab? Dann
müssten wir in Zukunft auf solche Unternehmungen verzichten. Ich habe Befürchtungen. Es ist eine Situation eingetreten, vor der ich schon vor vielen Jahren Angst hatte. Damals habe ich in meinem Buch „Ich wollte, dass wir uns verstehen“ als Überschrift für ein Kapitel formuliert: „Was soll werden, wenn die Medikamente nicht mehr wirken?“ Risperidon, das mir viele Jahre geholfen
hat, wirkt nicht mehr in bewährter Weise. Ich bin in zwang-haften Aktivitäten gefangen. Ich realisiere es, kann es aber nicht unterlassen. Natürlich mokieren sich die Mitreisenden darüber, auch wenn sie vordergründig freundlich bleiben.
Wer soll verstehen, dass ein intelligenter Mensch verrückte Dinge tut, die keinen Sinn ergeben? Die Zwänge sind zu meinem größten Problem geworden.
Ich mache mir Gedanken über Kay, den Reiseleiter, werde
für den Abschiedsabend etwas über ihn schreiben. Als ich ihn in Frankfurt vor dem Abflug nach Taschkent zum ersten Mal sah, wurde ich neugierig. Wie würde er mich auf-nehmen? Etwas bange war ich schon. Ich mache mir ja nichts vor, was meine Behinderung angeht. Jedermann kann erkennen, dass ich kein normaler Mann in den Vierzigern bin. Ich werde als Kind wahrgenommen. Kay kam freundlich auf mich zu und versicherte, dass er es gut finde, dass wir die Reise mitmachen. Ich hatte schnell Vertrauen zu ihm. Irgendwie erinnerte er mich an meinen
Bruder Rüdiger.
Ich klatsche und nerve die Gäste, die im Hotelgarten Ruhe
suchen. Ich höre es und erwarte eine missbilligende Reaktion von meinen Eltern, von denen ich annehmen muss, dass sie am liebsten nach Hause fahren würden. Ich
aber will nicht aufgeben und hoffe nach wie vor, dass es besser wird. Ich bin über mich selbst unglücklich.
Was verbinde ich mit Chiwa, einer Stadt, die in ihrer
jetzigen Gestalt erst 200 Jahre alt ist? Aber natürlich gab es eine lange Geschichte davor. Chiwa als Leuchtturm in der Wüste, wo Karawanen Zuflucht fanden. Was müssen das für Verhältnisse gewesen sein. Ich versuche mir das
Leben vorzustellen und denke sogar daran, dass ich, wenn ich in einer solchen Zeit und unter solchen Umständen gelebt hätte, vielleicht leichter toleriert
worden wäre.
Donnerstag, 6. Septermber
Der Flug von Chiwa (Urgench) nach Taschkent verlief
problemlos, nur die Landung war etwas hart. Nun sind wir in Bishkek, der Hauptstadt von Kirgistan, angekommen. Auch dieser Flug war ruhig. Ich hatte einen Fensterplatz und konnte die Bergketten sehen. Dann aber kam das, was mir die letzten Nerven gekostet hat: das Warten auf das Gepäck. Am Band tat sich eine endlos lange Zeit gar nichts. Wer zur Toilette musste, musste an einer Kontrolle vorbei rausgehen und dann auf schwierigem Wege wieder in den
Gepäckraum geführt werden.
Wir fuhren durch die Stadt zu einem Restaurant, wo ein
Tisch für uns bestellt war. Ich wurde so unruhig, dass ich es in meiner Haut nicht aushielt. Meine armen Eltern leiden Höllenqualen.
Freitag, 7 September
Ich habe einen halben Tag verschlafen, und das war gut
so. Mich hatte nämlich das straffe Programm überfordert, obwohl ich mich etliche Male mit Mutter ausgeklinkt hatte. So auch gestern in Bishkek, als nach dem Mittagessen ein Stadtrundgang angesagt war. Mutter und ich setzten uns auf eine Mauer im Universitätsviertel. Dann machten wir uns auf, einen Schattenplatz oder eine Bank zu finden. Wohin wir aber kamen, dort saß schon ein Liebespärchen. Und die sollte man besser nicht stören. Die Wartezeit zog sich in die Länge. Als schließlich Vater zu uns stieß und mitteilte, dass die anderen noch Kaffee trinken wollten, war ich etwas knatschig. Aber mir ist bewusst, dass ich nicht verlangen kann, dass die Gruppe meinetwegen auf etwas verzichtet. Dann endlich Aufbruch in die Berge, wo zwei Hüttenübernachtungen angesagt waren. Alles etwas beschwerlich und ohne Komfort.
Zum Abendessen gingen Mutter und ich nicht mit. Wir
hätten eine recht weite Strecke Treppen runter laufen müssen. Vor Treppen habe ich einen Horror. Ich sehe die Abstände nicht und drohe zu stolpern. Ich hatte
nur ein Bedürfnis: ins Bett. Und daraus ließ ich mich nicht mehr vertreiben.
Warum nur bin ich während dieser Reise so kraft- und lustlos? Ich hatte mich doch so darauf gefreut. Meine Gesundheit ist offensichtlich nicht mehr so gut wie früher, als ich während der Reisen, die mindestens genauso anstrengend waren, stets guter Laune war. Schade, dass es nun keine Fernreisen mehr geben wird. Aber es liegt keinesfalls an den Mitreisenden oder an dem Reiseleiter,
dass ich die Reise nicht wirklich genießen kann. Kay gibt sich große Mühe, uns behilflich zu sein.
Sonntag in Karakol:
Wenn man Tschingis Aitmatows Liebesgeschichte „Djamilja“liest, bekommt man einen Eindruck vom Leben in Kirgistan während des zweiten Weltkrieges. Niemals hätte ich gedacht, dass der Zweite Weltkrieg bis Zentralasien gewirkt hat und unsagbares Leid über die Menschen gebracht hat.
Und nun bin ich hier und sehe doch wenig vom Leben in den Ails. Das Land wurde 1991 in die Selbständigkeit entlassen, damals, als die Sowjetunion auseinander
brach. Die sowjetische bzw. russische Vergangenheit begegnet uns Touristen auf Schritt und Tritt. Der Issyk Kul, ein See auf 1700 m Höhe, war mit seinen Stränden
Urlaubsparadies der Russen und ist es bis heute geblieben. Wir kamen in der Nähe eines Militärkrankenhauses vorbei, wo auch Veteranen des Afghanistankrieges gesund gepflegt werden. Die Landschaft, durch die wir fuhren, war bezaubernd. Wie Sanddünen wirkten die Berge. Wie schön muss es sein, noch weiter ins Gebirge vorzudringen. Aber Mutter und ich sitzen mal wieder allein im Hotel, weil mir meine Verdauungsprobleme nach wie vor die Teilnahme an mehrstündigen Unternehmungen unmöglich machen. Als Ersatz lesen wir in dem Buch „Djamilja“ von Tschingis Aitmatow, der in dieser Gegend geboren
wurde und nahe am Issyk Kul begraben liegt. Er starb hochbetagt 2008.
Gestern Abend nahmen wir das Abendessen bei einer
uigurischen Familie ein. Man hatte sehr aufwendig für uns gekocht. Aber das war kein Privatbesuch, sondern von der Agentur vermittelt. Wir waren nicht die ersten und nicht die letzten Gäste in diesem Haus. Die Uiguren, deren Mehrzahl
in Westchina lebt, stellen eine Minderheit dar. Ihre Situation ist ähnlich wie die der Tibeter, nur dass sie keinen Dalai Lama haben, der die Weltöffentlichkeit auf ihre Probleme aufmerksam macht.
Während der Fahrt nach Karakol kamen wir an Stellen
vorbei, wo Chinesen die Straße neu bauten. Was für ein Interesse haben die Chinesen daran, in Kirgistan eine Straße zu bauen, die von den Kirgisen gar nicht bezahlt werden kann? Es geht wohl wie schon immer darum, Waren aus China nach Russland und bis in die Türkei und nach Europa transportieren zu können.
Die alte sog. Seidenstraße hat noch immer oder wieder ihre Berechtigung. Auch soll es ein Projekt geben, eine Eisenbahnverbindung von China durch Zentralasien bis Europa zu schaffen. Aber das ist wohl eher Zukunftsmusik, wie Kay erklärt.
Kay hat diese Gegend als junger Mann mit dem Fahrrad
erkundet. Er kennt sich so gut aus, dass man nach seinen Erzählungen eine genaue Vorstellung von der Bergland-schaft bekommt. Eine Gruppe von Radfahrern kommt uns entgegen, während wir uns auf abschüssiger Straße vom komfortablen Bus fahren lassen. Weit auseinander gezogen, kämpfen sich die Fahrradtouristen den Berg rauf. Einige schieben ihr Fahrrad. Hintendran ein Kleinbus von
Intourist, der die Gruppe offensichtlich betreut.
Im Gästehaus bewohnen wir das Zimmer Nr. 1, dessen
Fenster zum Hof gelegen ist. Geweckt wurden wir sehr früh vom Hahn des Hauses. Trotzdem hätte ich fast das Frühstück verschlafen.
Kirgistan ist ein armes Land, trotz der Landwirtschaft
und einer beachtlichen Pferdezucht. Dass das Land eine der größten Goldminen sein eigen nennt, hat mich überrascht. Wer weiß davon bei uns? Vor einigen
Jahren gab es im Zusammenhang mit dem Goldabbau einen schrecklichen Unfall, der die gesamte Region als Umweltkatastrophe heimsuchte. Bäche und Flüsse, die aus
der Bergregion in den Issyk Kul flossen, waren vergiftet.
Was mir durch den Kopf geht: Wie eng verknüpft ist doch
unser Leben als Europäer mit den Ereignissen in Zentralasien. Und doch interessiert sich bei uns kaum jemand für diese Länder: In den Medien muss man
lange suchen, um Informationen zu bekommen. Darum sauge ich alles auf, was Kay aus seinem reichen Wissensschatz preisgibt. Ich höre ihm gern zu. Als er einmal beim Abendessen uns gegenüber saß, äußerte ich den Wunsch, er möge doch von seinen Erlebnissen berichten. Ich war sehr beeindruckt und auch ein wenig
neidisch.
Was hätte aus mir werden können und was hätte ich aus meinem Leben machen können, wenn nicht….
11..9.
Die Fahrt um den Issyk Kul wurde zum landschaftlichen
Erlebnis. Hohe Berge, hinter denen Schneekuppen sichtbar wurden. Satte Wiesen und einzelne Schafherden. Straßendörfer mit typisch russischen Häusern, die klein und bescheiden, manchmal baufällig, daherkommen. Aber oft haben die schäbigen Häuser Blumengärten, was einen freundlichen Eindruck vermittelt.
Schulkinder in Schuluniformen kommen aus der Schule, die Mädchen mit der obligatorischen weißen Haarschleife. Diese Schulkleidung wurde während der
sowjetischen Zeit eingeführt. Ich liebe solche Fahrten durch die Landschaft.
Bishkek, von wo aus wir zurück nach Taschkent fliegen,
ein Hotel mit großzügigem Garten. Abends saßen wir stundenlang unter einer Eiche. Eicheln fielen zur Erde, manchmal auf unsere Köpfe oder auf die Füße. Es
war, als würden die Eicheln von Geistern herunter geworfen. Um Mitternacht klingelte der Wecker, weil unser Flug von Bishkek nach Taschkent in halber Nacht stattfand. Am Flughafen das übliche nervtötende Procedere, das aber, als wir in Taschkent ankamen, noch übertroffen
wurde. Endloses Warten in der Schlange, dem Mutter und ich sich teilweise entzogen, als wir sitzen blieben, während Vater sich mit dem Gepäck in die Schlange einreihte. Irgendwann schaffte es unser umsichtiger Kay, uns nach vorn zu bugsieren. Im Hotel von Taschkent, wo wir schon zwei Mal eine Nacht verbrachten, wurde uns ein Frühstück serviert, die Zimmer konnten noch lange nicht. bezogen werden. Ich schlief in einem Sessel in der Empfangshalle ein, wachte aber auf, als sich Manuela und Margarete zu uns setzten. Sie hatten auch darauf verzichtet, mit der Metro in die Stadt zu fahren. Wir bekamen dann doch
unseren Zimmerschlüssel früher als erwartet. Ich schlief wie ein Toter, war aber hellwach, als Mutter vorschlug, nach draußen zu gehen. Da gab es eine Besonderheit, die wir schon kannten: Über einem rauschenden Bach waren
Sitzecken mit Baldachinen errichtet, unter denen man gemütlich auf Teppichen und Kissen Platz nehmen kann. Auch während der Mittagszeit kann man es an
diesem Ort gut aushalten.
Heute Abend ist Abschied angesagt, denn heute Nacht
fliegen wir nach Deutschland zurück. Meinen Abschiedstext für Kay habe ich
schon seit Tagen in der Tasche. 
Abschied
von Kay
Reiseleiter sind oft nette Typen.
Der netteste, dem ich begegnet bin, heißt
Kay.
Freundlich, strahlend, jugendlich
wie ein Student.
Aber
er ist kaum jünger als ich.
Und ich bin ein Mann in den Vierzigern,
auch wenn ich nicht so aussehe.
Als ich Kay in Frankfurt vor dem Abflug nach Taschkent
zum ersten Mal sah,
wurde ich neugierig.
Wie würde er mich aufnehmen?
Etwas bange war ich schon.
Am Ende der Reise stelle ich fest:
Mein erster Eindruck hat mich nicht getäuscht.
Kay ist einfühlsam, hat den Überblick und spürt,
wo jemand seine Hilfe braucht.
Nicht zu vergessen
seine pädagogischen und didaktischen Fähigkeiten.
In freier Rede hat er uns so viel vermittelt.
wie wir vertragen konnten,
nicht mehr und nicht weniger.
Als
während einer langen Busfahrt

die Stimmung zu kippen drohte,
las Kay uns ein Märchen vor.
Das Märchen kam gut an,
eine Fortsetzung wurde gewünscht.
Nun war die Stimmung wieder gut.
Ein außergewöhnlicher Reiseleiter
Ist unser Kay,
dem wir noch viele erfolgreiche Reisen wünschen.

Es war eine anspruchsvolle und anstrengende Reise. Ich habe viel gelernt und die Bilder, die ich aufgenommen habe, werden noch lange meine Erinnerungen begleiten.
 


 


 


 


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