Dietmar Zöller

Geistige Behinderung

Geistige Behinderung

 

Was mir zu dem Begriff Geistige Behinderung eingefallen ist

 

Der Begriff Geistige Behinderung und seine Konnotationen


Was verstehen die Menschen unter dem Begriff Geistige Behinderung?
Ich frage einen Mitarbeiter vom FED (Familien entlastender Dienst)
Ergebnis:
Kommunikative Einschränkung durch eingeschränkte neurologische Fähigkeiten zur Ausführung.
Ein Psychologe, den ich fragte, wie er den Begriff Geistige Behinderung definieren würde, sagte lapidar:
IQ unter 70.
Ich bin überzeugt, dass die meisten Menschen den Begriff Geistige Behinderung mit kognitiver Beeinträchtigung erklären würden.
Ich habe eine schwache Erinnerung an einen Arztbesuch. Der renommierte Kinderarzt machte meiner Mutter gegenüber einige Bemerkungen, an die ich mich nur sinngemäß erinnere:
Machen sie sich keine Hoffnung, dass er mal eine normale Schule besuchen kann.
Heute denke ich, dass das seine Umschreibung für den Begriff Geistige Behinderung war. Ich kann aus einem ärztlichen Gutachten zitieren, in dem mir eine schwere Geistige Behinderung und ein Hydrozephalus bescheinigt wurden. All meine autistischen Freunde, die keine Lautsprache
erworben haben, aber später über FC (gestützte Kommunikation) das Schreiben lernten, wurden als Geistig Behinderte diagnostiziert und in Schulen eingeschult, die damals Schule für Geistig Behinderte genannt wurde.
Nun erhielt ich kürzlich einen einfühlsamen Brief von einem 85-jährigen schon lange im Ruhestand lebenden Kinderarzt, der zu der Einsicht gekommen ist, dass er wohl während seiner Berufstätigkeit manchen Kindern den Stempel Geistige Behinderung verpasst hat, die gar nicht geistig behindert waren. Er stützt seine Selbstkritik auf seine Begegnung mit Menschen, die über FC gelernt haben zu kommunizieren. Wie jenem Arzt ist es mein Anliegen, dass denen mehr Gerechtigkeit widerfährt, die der Lautsprache nicht mächtig sind und die den Stempel geistige Behinderung ein Leben lang mit sich rumtragen. Ich selbst kokettiere für meine Person mit dem Begriff Geistige Behinderung und weise darauf hin, dass ich bereits 13 Bücher und viele Aufsätze veröffentlicht habe. Meine Texte diktiere ich seit einiger Zeit meiner Assistentin. Ich spreche aber nach wie vor leise und schlecht artikulierend.
Seit wann es den Begriff Geistige Behinderungen gibt, habe ich im Handlexikon Autismus Spektrum, erschienen 2015 im Kohlhammerverlag, gefunden. In dem Artikel: "Geistige Behinderung", schreibt Georg Theunissen:
"Der Begriff der Geistigen Behinderung wurde gegen Ende der 1950er Jahre von der Eltern-Vereinigung Lebenshilfe e.V. als neuer Fachbegriff eingeführt. Damit sollten einerseits die bisherigen Leitbegriffe wie Schwachsinn, Blödsinn, Idiotie oder Oligophrenie abgelöst werden. Anderseits sollte der Anschluss an dem im angloamerikanischen Sprachraum geläufigen Begriff der mental Retardation gefunden werden, der sich allerdings (analog zum psychiatrischen Begriff der Debilität) auch auf Menschen bezog, die hierzulande üblicherweise als lernbehindert bezeichnet werden. Der Begriff der Geistigen Behinderung wird demgegenüber bis heute enger gefasst (<IQ 55/60), was die internationale Verständigung erschwert und nicht selten Missverständnisse erzeugt."

Ich habe Probleme mit dem Begriff Geistige Behinderung, was ist mit dem Begriff Geist gemeint? Ich für meine Person weiß, dass mein Gehirn durch einem Atem-Kreislaufstillstand verletzt wurde. Von einem Geist, der gestört sein könnte, weiß ich nichts. Mir fehlen Fähigkeiten für die praktische Lebensbewältigung. Da innere Sprache früh vorhanden war, kann man davon ausgehen, dass sich mein Denkvermögen entsprechend entwickelt hat. Dennoch habe ich immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass mir meine Mitmenschen keine geistigen Leistungen zutrauten. Nach einem Gottesdienst begrüßte mich die Gast-Predigerin besonders freundlich und bemerkte, dass ihre Predigt für mich zu schwer gewesen sei. Was ich gestützt schrieb, hielt man für die Ergüsse meiner Mutter, weil es nicht sein konnte, dass ich differenzierte Gedanken hatte. Viele meiner autistischen Freundinnen und Freunde, die zu schreiben gelernt haben, können von ähnlichen Erfahrungen berichten. In amtlichen Papieren werden sie als Geistig Behindert geführt und werden das Etikett Geistige Behinderung nicht mehr los. Kurios ist die Praxis, Geistige Behinderung und seelische Behinderung bei Kindern zu unterscheiden. Für geistig behinderte Personen ist das Sozialamt zuständig, für seelische Behinderung das Jugendamt.

Inzwischen habe ich einige Rückmeldungen bekommen über die Diagnosen nicht sprechender Autisten. Der Begriff Geistige Behinderung wird selbstverständlich benutzt und beinhaltet eine Intelligenzminderung. Es wird nicht immer deutlich, ob Tests durchgeführt wurden, die zur Diagnose führten. Ich habe den Eindruck, dass in vielen Fällen das Beobachten des Verhaltens zur Fehleinschätzung des Kindes führte. Mir wurde von einem Fall erzählt, dass die Diagnose Geistige Behinderung am Telefon ausgesprochen wurde, ohne dass der Gutachter das Kind gesehen hatte.
Man kann sich fragen, ob der Begriff mental retardation, der im angelsächsischen Sprachraum gebräuchlich ist, das Problem treffender ausdrückt. Man könnte das englische Wort mit geistiger Zurückgebliebenheit übersetzen. Das wäre weniger festlegend als der Begriff Behinderung und ermöglicht die Annahme einer positiven Entwicklung. Ein autistischer Brieffreund schrieb mir Zitat: dass selbst sogenannte Geistig Behinderte den Begriff nicht mögen und Unterschriften für die Abschaffung gesammelt haben. Was uns FC Schreiber betrifft, ist das sowieso Blödsinn. In meinen Akten steht auch allerhand Negatives und zum Teil Wertendes, die Arztbriefe sind sehr defizitorientiert. Ich würde sie am liebsten verbrennen.

Dass die Diagnose geistige Behinderung für viele Menschen aus dem Autismus Spektrum unzutreffend ist, heißt nicht, dass es keine geistige Behinderung im Sinne einer Intelligenzminderung gibt. Es gibt Personen, die in ihren intellektuellen Möglichkeiten eingeschränkt sind und ein Leben lang bleiben. Es gibt Studien, in denen man sich den Lernmöglichkeiten dieser Schüler/innen anpasst. Es gibt eigene Curricula für geistig behinderte Schüler. Alle Bemühungen, für dieses Klientel eine einfache Sprache zu benutzen, markieren einen Fortschritt. Aber was haben Schüler/innen davon, die zwar nicht sprechen können, aber eine differenzierte Sprache verstehen. Auf Grund eigener Erfahrungen behaupte ich: Unterforderung ist schlimmer als Überforderung.

Je mehr ich darüber nachdenke, desto fragwürdiger wird mir der Begriff Geistige Behinderung. Eine solche Begrifflichkeit, die von den meisten Menschen als Intelligenzminderung verstanden wird, ist festlegend und geht davon aus, dass keine Entwicklung stattfindet. Es wird gar nicht differenziert, in welchen Bereichen Einschränkungen vorliegen. Bei der Entwicklung eines Menschen spielen die motorische Entwicklung die Sprachentwicklung und die kommunikativen Möglichkeiten eine Rolle. Auch ist das soziale Umfeld eines Kindes für die Entwicklung von großer Bedeutung. Der Begriff Behinderung legt fest und reduziert das Problem in unzulässiger Weise einseitig auf die eingeschränkten intellektuellen Möglichkeiten. Ich selbst habe kein Problem damit mich als Behinderter darzustellen. Der Begriff behindert ist nichtdiskriminierend, wenn im Fokus die Persönlichkeit steht, deren Wert unantastbar ist.

Je länger ich mich mit dem Begriff geistige Behinderung beschäftige, desto fragwürdiger wird der Begriff für mich. In meinem Bewusstsein spielt der Geist gar keine Rolle. Ich habe eine vage Vorstellung von den neuronalen Entwicklungen und Prozessen in meinem Gehirn. Dass sich meine Persönlichkeit entwickeln konnte, hat etwas damit zu tun, dass immer ein Du da war, das die Kommunikation mit mir suchte. Ohne dieses Du hätte ich wahrscheinlich keine Chance gehabt mich zu entwickeln. Dass ich behindert war, ließ sich nicht übersehen. Die Behinderung umfasste körperliche, kommunikative Einschränkungen und Besonderheiten in allen Wahrnehmungsbereichen. Ich möchte wissen, was sich die Menschen, die mich als geistig behindert abstempelten, dabei gedacht haben. Verband man mit der Formulierung Geistige Behinderung nur den Hinweis auf eingeschränkte Lernmöglichkeiten, im Hinblick auf eine Beschulung?

Während mich der Begriff geistige Behinderung Tag und Nacht beschäftigt denke ich daran zurück, als ich zum ersten Mal von sogenannten Euthanasie-Maßnahmen im Dritten Reich erfuhr. Ich fand das Buch von Ernst Klee (Euthanasie im Dritten Reich), das meine Eltern vor mir versteckt hatten. Geistig Behinderte wurden als Ballast-Existenzen vergast. Berühmt wurden die grauen Busse, in denen zum Beispiel Bewohner der Diakonie Stetten zur Vergasung auf die Alb gefahren wurden. Ist die Handhabung der Abtreibung von Föten, die eine Behinderung erwarten lassen, nicht ähnlich schlimm? Man entscheidet, dass ein solches Leben nicht lebenswert ist. Mir gefällt die Überschrift eines Aufsatzes von Georg Feuser: Geistigbehinderte gibt es nicht (https://www.georgfeuser.com/?s=geistigbehinderte+gibt+es+nicht ). Alle Missverständnisse sollten aus dem Weg geräumt werden, eine unmissverständliche Begrifflichkeit ist von Nöten.

 

Ich erinnere mich daran, dass einige FC Nutzer, die eine Schule für Geistig Behinderte besuchten, in ein Gymnasium umgeschult wurden. Es war besonders eine Schulleiterin, die überzeugt war, dass die mit Hilfe von FC erbrachten und erwarteten Leistungen es rechtfertigen diese Schüler an einem Gymnasium zu beschulen. Die Euphorie war groß, ich kenne persönlich einen Mann, der während seiner Schulzeit eine gute Stützperson hatte und das Abitur bestand. In der Gegend wurden autistische Kinder, die nicht sprechen konnten, in der Schule für Geistigbehinderte eingeschult und nach besonderen Lehrplänen unterrichtet. Man benutzte für diese Schulen auch den Ausdruck Schule für praktisch Bildbare. Die Kulturtechniken spielten eine untergeordnete Rolle. Dass ich selbst eine solche Schule nicht kennen gelernt habe ist eine besondere Geschichte. Ich erfüllte jahrelang alle Merkmale, die zu einer Diagnose Geistige Behinderung hätte führen müssen. Ich sprach nicht und war in allen Entwicklungsbereichen stark retardiert. Als ich mit 52 Jahren noch einmal begann über den Begriff Geistige Behinderung nachzudenken wurde mir bewusst, dass ich mit etwa zweieinhalb Jahren für Außenstehende ein hoffnungsloser Fall war. Ich war sichtbar in der Entwicklung zurückgeblieben, hatte aber trotzdem ein Bewusstsein. Das konnte auch meine Mutter nicht wissen. Ich war außerordentlich schwer behindert, aber von einem behinderten Geist kann ich auch rückblickend nichts erkennen. Was könnte mit Geist gemeint sein? Kann man davon ausgehen, dass es unabhängig von körperlicher und neurologischer Erscheinung einen Geist gibt, der gestört ist, dass es zu keinem Selbstbewusstsein kommt? Ich für meine Person hatte im Alter von weniger als drei Jahren ein Bewusstsein von mir selbst. Wäre es möglich, dass viele Kinder, die als Geistig Behindert diagnostiziert werden, behindert sind im Sinne einer Lernbehinderung, das heißt eingeschränkt sind in ihren Lernmöglichkeiten aber trotzdem ein Bewusstsein ihrer Selbst entwickeln? Diese Kinder brauchen dann nichts dringlicher als ein Du, das in ihnen eine Person erkennt, die auf Kommunikation angewiesen ist.

 

Meine frühen Erinnerungen und mein Sprachverständnis


Auch wenn meine Mutter das nicht glauben will: Ich habe ganz frühe Erinnerungs-brocken die aber keinen Zusammenhang ergeben. Als ich acht Monate alt und mein Zustand wohl außerordentlich bedenklich war fühlte ich, dass ich allein war. Aus Erzählungen weiß ich, dass mich meine Mutter nur durch eine Glasscheibe sehen durfte. Ist das Gefühl des alleingelassen Seins nun eine Erinnerung oder nicht? Ich weiß es auch nicht. Eine andere Erinnerung bezieht sich auf die Zeit, als ich ungefähr zwei Jahre alt war und ich eine Mandel-Operation überstand. Der bullige Arzt beugte sich über mein Bett und sagte: Der hat keinen Lebenswillen. Alle anderen Erinnerungen sind diffus und mit dem Gefühl verbunden keine Kraft zu haben. Eine wirkliche und glaubwürdige Erinnerung bezieht sich bei dem Besuch der Kinderärztin, die mit großem Erstaunen feststellte, dass ich Laufen konnte, sie sagte: Das habe ich nicht erwartet. Ich erinnere mich an das Gefühl, das ich als Selbstbewusstsein bezeichnen möchte. In der Folgezeit wurde ich unterschiedlichen Fachleuten vorgestellt. An die Gesichter kann ich mich nicht erinnern, aber daran, was sie sagten. Sie bestärkten mich in dem Gefühl ein ganz schlimmer Fall zu sein, ich habe aber auch Erinnerungen daran, dass meine Mutter bemitleidet wurde. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter interessanter war als ich. Rückblickend habe ich den Eindruck, dass die sogenannten Fachleute keine Vorstellung davon hatten, was ich mitbekam. Meine Mutter sollte mich allein in einem Krankenhaus zurücklassen, ich würde es gar nicht merken, sagte man. Nach einer Woche rief man meine Mutter, weil ich in ihrer Abwesenheit total abbaute.
Das Sprachverständnis nicht sprechender Autisten wird vielleicht oft unterschätzt. Weil man von einer Geistigen Behinderung ausgeht, zu der das nicht passen würde. Es stellt sich die Frage, ob nicht sprechen zu können notwendigerweise mit einer sogenannten Geistigen Behinderung einhergeht. Mein Fall ist mit Sicherheit ein besonderer Fall und darum nicht zu verallgemeinern. Mein Gehirn ist wegen eines Atem-Kreislauf-Stillstands geschädigt, aber trotzdem konnte sich das Sprachverständnis entwickeln. Man sollte bei den Kindern, die keine Lautsprache entwickeln genau beobachten, ob sie Sprache verstehen. Aber das erfordert viel Zeit und Ausdauer, die Diagnostiker nicht mitbringen. Nicht einmal meine Mutter hat umfassend nachvollziehen können, was ich verstand.

Die Erinnerung an den Krankenhaus Aufenthalt mit acht Monaten kann ich präzisieren, nachdem ich lange genug nachgedacht habe. Ich erinnere mich, dass mein Körper in einer Art Schwebezustand war, und stelle fest, dass ich bis heute das Problem habe, dass ich meinen Körper schlecht spüre und immer noch das Gefühl kenne, dass mein Körper nicht da ist. Nachtragen möchte ich auch, dass ich als kleines Kind keine Gesichter wahrgenommen habe. Ich habe mal behauptet, dass das Gesicht meiner Mutter verzerrt war, wie hätte sich da eine Lautsprache entwickeln sollen? Das kleine Kind ist doch auf die mimische Kommunikation mit der Mutter angewiesen. Offensichtlich war mein Hörvermögen früh ausgebildet, so dass ich Sprache verstand, als es niemand vermutete.

 

Wie wurde ich zu einem Ich und wie entwickelte ich ein Ich-Bewusstsein


Ich kann nicht genau sagen wann ich mich als eine eigenständige Person wahrnahm. Oft habe ich davon berichtet, dass ich mit meinem zwei Jahre älteren Bruder in der Badewanne saß. Ich konnte nicht unterscheiden, welche Beine zu mir gehörten und welche zu meinem Bruder. Mein Bruder war wie ein Gegenstand, es war noch keine Beziehung entstanden. Das erste Du, dass ich bewusst wahrnahm, war meine Mutter. Es entstand eine Zwiesprache ohne Laute, nur mit Blicken. Ich bin nicht einmal sicher, ob es zum Blickkontakt kam. Heute kommt mir das alles geheimnisvoll vor. Aber ich war in der Entwicklung deutlich zurückgeblieben. Ich konnte noch lange nicht, was ich meinem Alter entsprechend hätte tun können müssen, aus dieser Zeit stammt auch die Diagnose Geistige Behinderung als ein vorausschauendes Urteil über meine Entwicklungsmöglichkeiten. Als ich mit drei Jahren die ersten freien Schritte schaffte, war ich nach meiner Erinnerung ein Kind mit einem ausgeprägten Ichbewusstsein.

 

Ich suche nach wie vor Kontakte zu autistischen Personen, die wie ich über außerordentliche frühe Erinnerungen verfügen.

Mein Freund A. schrieb mir:
Ich verstehe dein Anliegen. Gerne würde ich darüber schreiben können. Ich habe große Angst, dass ich total ausflippe. Ich habe aber beschlossen, Herrn S. einen Brief zu schreiben. Ich denke, das tut mir gut.

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